Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Dienstag, 9. April 2024

Rezension: Die Flucht (Fuminori Nakamura)

 





Japan

Die Flucht
Originaltitel: Tobousha
Autor: Fuminori Nakamura
Übersetzerin: Luise Steggewentz
Format: Hardcover, E-Book
Genre: Noir-Thriller, Mystery, Drama



"In der Stille überkommt mich das Gefühl, selbst nur ein Bett, Regal oder Stuhl in diesem Zimmer zu sein. Ein vergessenes Möbelstück, das die Welt nicht mehr braucht. So eine Geschichte hatte ich mir früher einmal ausgedacht. Eine Geschichte über einsame Männer in einem Hotel im Ausland, die sich einer nach dem anderen in Teile der Einrichtung verwandeln. Am Ende entschließt sich der Hotelbesitzer seufzend, einen Entrümpler kommen zu lassen."


Selten nutze ich Zitate von der Anfangsseite eines Buchs. Aber wenn ein Buch mit so einer wundervollen Metapher beginnt, welche Wahl habe ich da schon? Mit dieser melancholischen Fest- und Vorstellung des Hauptcharakters Kenji Yamamine beginnt eine Geschichte, die ich als Leser und Fan der japanischen Literatur so schnell nicht wieder vergessen werde. Aus zeitlichen Gründen, aber auch weil ich "Die Flucht" erstmal sacken lassen musste, hat sich meine Besprechung ein wenig verschoben. Ich musste meine Gedanken noch etwas ordnen. 
Ich habe ende des vergangenen Jahres erstmals von der Lizensierung zu "Die Flucht" erfahren (im Original Tobousha oder auch Tōbōsha, was man unter anderem als "Ausreißer" und "Verdächtiger" übersetzen kann, aber auch der deutsche Titel eine sehr treffsichere Übersetzung des japanischen Begriffs ist). Der Roman ist 2020 in Japan erschienen und damit auch einer der aktuellsten Romane des japanischen Autors Fuminori Nakamura. In der deutschen Übersetzung sind bereits "Der Dieb", "Die Maske" sowie "Der Revolver" erschienen. Allesamt Buchtitel, die so kurzbündig und auf den Punkt gebracht sind wie Nakamuras furiose Geschichten. Mit "Die Flucht" ist ein erneut kurzer Buchtitel erschienen, der Inhalt aber diesmal verteilt auf fast 600 Seiten. Für einen japanischen Roman ist das schon Marcel Proust Niveau. Ich wusste vorab nicht wirklich, worauf ich mich hier einlasse. Das Buchcover bildet einzig und allein eine Trompete ab. Doch liest man sich auch nur die ersten zwei Seiten des Buches durch, so weiß man, diese Trompete ist der Dreh- und Angelpunkt dieser verstrickten Geschichte.

"Die Flucht" startet mit einem Heimvorteil für deutsche Leser (man beachte später auch die wundervollen Beschreibungen des Kölner Doms). In einer heruntergekommenen Wohnung in Köln versteckt sich der Reporter Kenji Yamamine. Während er über einsame Männer nachdenkt, die sich in Möbelstücke verwandeln die keiner mehr haben möchte, raschelt es am Türschloss. Es treibt Kenji den Schweiß auf die Stirn. Wer könnte es nur sein? Haben sie ihn entdeckt? Wird hier sein Leben enden? Ein unbekannter Mann der in englischer Sprache redet hat das Schloss aufgebrochen. Ein Mann von einer beachtlichen Größe. Ein Mann, der zwar keine wehrlosen Hunde tötet, aber dafür Menschen, die nicht kooperieren wollen, viele Schmerzen zufügen kann. Der Ausländer nimmt auf dem Sofa Platz, nichtsahnend, dass sich darunter das Objekt der Begierde befindet. Nach einem längeren Vortrag verlangt er von Kenji, die Trompete rauszurücken. Ein legendäres Instrument welches von einem nicht minder legendären japanischen Komponisten im zweiten Weltkrieg dazu genutzt wurde, die japanischen Truppen zum Sieg eines bedeutenden Manövers zu führen. Kenji sitzt in der Klemme. Es scheint kein Entkommen vor seinem Widersacher zu geben. Doch hier kann die Geschichte nicht enden, noch nicht. Kenji greift zu einer Beretta aus der Schublade, die der Vormieter dort zurückgelassen hat. Kenji ist sich nicht sicher, ob die Waffe echt ist oder nur eine Attrappe. Er zielt auf den unheimlichen Mann.

Was ich hier nun beschrieben habe umfasst gerade mal den Auftakt des Buches. Die Seiten, wie gewohnt bei Nakamura, scheinen sich ganz von selbst umzublättern. Was hier ein wenig wie eine Neuinterpretation um die Geschichte des Teufelsgeigers Niccolò Paganini klingt, ist in Wahrheit etwas ganz anderes. In dem umfangreichen Roman mag die Trompete zwar das mysteriöse Objekt der Begierde sein, dem nachgesagt wird, es könne Menschen verzaubern und die Moral von Soldaten erhöhen, ist nur ein Teil von vielen Schichten einer großen, verzierten Torte, die uns Fuminori Nakamura hier auftischt. Der Plot nimmt noch viele weitere Formen an, viele zeitgenössische Themen wie die Flüchtlingskrise aber auch der christliche Glaube in Japan (der aktuell ja auch in dem TV-Event Shōgun wieder prominente Bedeutung findet) werden hier ausführlich behandelt. Merklich und dennoch subtil baut Nakamura den Glaube in seine Geschichte mit ein. Allen voran geht es in "Die Flucht" aber auch noch um die Beziehung zwischen Kenji und Anh, die er auf den Philippinen kennenlernt und sich in sie verliebt.

"Die Flucht" ist Literatur, wie sie nur aus Japan stammen kann. Wer bei dem Roman einen aalglatten Thriller erwartet, ist hier falsch bzw. wird merken, falsch abgebogen zu sein. Denn wie üblich bei der japanischen Literatur, ganz besonders aber bei Nakamura, ist dieses Buch allen voran eine Charakterstudie. Ein "Psychologischer-Thriller", wenn ich nun einen Begriff nennen müsste. Die Trompete des Komponisten Suzuki ist natürlich der berüchtigte MacGuffin, um die Geschichte voranzutreiben. Im Fokus stehen hier aber eine menge andere Handlungsstränge und Figuren, die allesamt wichtige Rollen ausfüllen. Wer hier westliche Krimis und Thriller verwöhnt ist, der könnte in Fuminori Nakamuras verstrickten Charakter- und Handlungszweigen schnell mal den roten Faden aus den Augen verlieren. Nakamura ist kein Autor, den man sich, um von einem anstrengenden Tag abzuschalten, zu Gemüte führt. "Die Flucht" ist ein blutiges, schweißtreibendes Abenteuer, dem man seine gesamte Aufmerksamkeit auch widmen muss.


"Ich wache auf. Ich habe das Gefühl, geträumt zu haben, kann mich aber nicht an den Traum erinnern. Im Fernseher meines Hotelzimmers, den ich vergessen habe auszustellen, laufen schwarz-weiße Videoaufnahmen. Sie zeigen ein Konzentrationslager der Nationalsozialisten. Ich verstehe nicht, was auf Deutsch erzählt wird, aber es wird ein Bild von Chiune Sugihara eingeblendet. Sugihara, der ehemalige japanische Vizekonsul in Kaunas in Litauen, widersetzte sich dem Außenministerium und stellte für Juden, die aus Polen geflüchtet waren, Visa aus, womit er vielen das Leben rettete." 


Sehr angetan war ich ebenfalls von der feinfühligen Übersetzung von Luise Steggewentz, ein Name, der mir noch gut durch die ebenso gelungene Übersetzung von Durian Sukegawas "Die Insel der Freundschaft" in Erinnerung geblieben ist. Einen Roman von diesem Kaliber zu übersetzen muss eine unglaubliche Herausforderung gewesen sein, von der ich gerne mehr erfahren möchte.




Abschließende Gedanken

Nicht ist wie es scheint bei Fuminori Nakamura. Wer hier einen linearen Thriller erwartet, wird schon sehr schnell auf hartem Granit landen. "Die Flucht" ist ein spannender, zugleich aber auch unglaublich komplexer Roman, der über mehrere Ebenen verläuft. Nakamura nimmt sich sehr viel zeit für seine Charaktere und deren Beziehungen zueinander. Auch widmet er sich kritischen, zeitgenössischen Themen. Für zartbesaitete ist aber auch dieser Roman nicht geeignet. Wie Martin Scorsese es in seinen Filmen tut, macht es Fuminori Nakamura in seinen Büchern. Wenn er den Stift in blutrote Tinte taucht, dann kommt es unerwartet, aus heiterem Himmel, aber es wirkt nachhallend. Gewalt als Stilmittel um die Geschichte voranzutreiben ist eine Kunst, die ein Autor erst einmal beherrschen muss. Aber Nakamura weiß genau, was er tut. Das gleiche gilt auch für herrliche, kurze Einlagen von einem feinen, trockenen Humor, der mindestens genau so überraschend platziert ist wie so einige blutrünstige Szenen im Buch.

"Die Flucht" ist für mich bereits jetzt in diesem noch jungen Jahr ein literarisches Highlight. Ein Buch, welches ich nicht uneingeschränkt empfehlen kann, da es zu vielschichtig ist, um es Freunden von speziellen Genres nahelegen zu können. Ich würde mir jedoch wünschen, wenn interessierte Leser diesem großartigen Roman eine Chance geben würden. Sowohl die Geschichte als aber auch die fabelhafte Übersetzung hätten es verdient. Fuminori Nakamura liefert mal wieder großartiges literarisches Kino ab. Man sollte sich ins Buch stürzen, ohne den Klappentext zu lesen!




Rezension verfasst von Aufziehvogel

Samstag, 16. März 2024

Fuminori Nakamura: Die Flucht erscheint am 20.03.2024 im Buchhandel

 


Die Flucht
Originaltitel: Tobousha
Autor: Fuminori Nakamura
Übersetzung: Luise Steggewentz
Veröffentlichungsdatum und Verlag: 20.03.2024 bei Diogenes



Nach Haruki Murakami ist vor Fuminori Nakamura. "Die Flucht" ist nach Murakamis großem Epos "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" (2024, DuMont Buchverlag) die zweite namhafte deutschsprachige Übersetzung eines japanischen Romans in dieser Jahreshälfte. Nach "Der Dieb", "Die Maske" sowie "Der Revolver" präsentiert der Diogenes Verlag nach einer Übersetzung von Luise Steggewentz einen der neusten Romane des Autors. Ich habe bereits jetzt das Privileg, den umfangreichen Roman lesen zu dürfen und Nakamura beweist wie kein anderer fernöstlicher oder auch westlicher Romanautor, mir beim lesen so feuchte Hände zu bescheren.

Wie immer ist es schwer, den Preisträger des Akutagawa und des Ōe Kenzaburō Preises in ein bestimmtes Genre unterzuordnen. Fans des Autors wissen sicherlich, auf was für eine Achterbahnfahrt sie sich bei "Die Flucht" mal wieder einstellen können. Neulingen, die das Werk von Nakamura noch nicht kennen, möchte ich nicht zu viel verraten und ich könnte allgemein empfehlen, sich den Klappentext nicht durchzulesen. Aber komplett unwissend soll man sich an so eine Geschichte natürlich nicht heranwagen!

In "Die Flucht" begleiten wir den Journalist Kenji Yamamine, der in den Besitz eines mysteriösen Objekts, der sogenannten Teufelstrompete eines bekannten japanischen Komponisten, gerät. Für Kenji beginnt damit ein regelrechter Abstieg in die Hölle. Das Objekt ist begehrt und bringt viele Schwierigkeiten mit sich. Die Lage für den Journalist scheint aussichtslos zu sein, doch er hat noch eine Aufgabe zu erfüllen.

Wie immer muss man bei Fuminori Nakamura aufpassen, nicht zu viel von der Geschichte preis zu geben. Nakamura ist für seine furiosen Wendungen bekannt und diesem Stilmittel bleibt er treu.

Noch im März wird es auf "Am Meer ist es wärmer" zu "Die Flucht" eine ausführliche Besprechung geben.

Montag, 11. März 2024

In Gedenken: Wovon träumen Taichi Yamada und Akira Toriyama?

Links: Taichi Yamada
Rechts: Akira Toriyama

 


In Gedenken an:

Yamada Taichi: 26.06.1934 - 29.11.2023 (Drehbuchautor und Romanautor)
Toriyama Akira: 05.04.1955 - 01.03.2024 (Mangaka und Character-Designer)


Auch nach der traurigen Todesmeldung von Akira Toriyama vom 01.03. steht die kleine, einsame Insel namens Japan noch. Eine Nation, die uns so viele wertvolle Künstler beschert hat. Viele weilen schon lange nicht mehr unter uns, haben aber durch ihr Vermächtnis so viel hinterlassen. Obgleich der Schriftsteller Yukio Mishima (der den Freitod wählte) oder der legendäre Mangaka Osamu Tezuka, ohne den es vermutlich heute nicht das geben würde, was wir als Manga und Anime kennen. Sie alle hinterließen ihre Spuren. Doch auch die noch lebenden Legenden beeindrucken nicht minder. Es ist erst wenige Stunden her, da räumte Godzilla Minus One den Oscar für die besten Spezialeffekte bei der 96. Academy Awards Veranstaltung ab. Natürlich werden aber die Augen auf Studio Ghibli Mitbegründer Hayao Miyazaki gerichtet gewesen sein, der mit seinem neusten und immer noch nicht letzten Animationsfilms "Der Junge und der Reiher" mit dem Oscar für den besten Animationsfilm ausgezeichnet wurde.

Doch um zwei andere japanische Künstler zu ehren, müssen wir die Zeit kurz zurückdrehen. Von dem Tod de japanischen Drehbuch- und Romanautors Taichi Yamada erfuhr ich durch meinen eigenen Blog. Damit schließt sich ein Kreis. "Am Meer ist es wärmer" existiert nur, weil ich einen herausragend guten Roman von Taichi Yamada gelesen habe: "Sommer mit Fremden". Meine Rezension des Buches datiert auf den 06.01.2011 und war somit einer der ersten Beiträge auf diesem Blog. Das Buch begleitete mich durch eine holprige Zeit, anschließend schaute ich mir die alte japanische Verfilmung an und genoss noch zwei weitere übersetzte Romane von Yamada, der nun im hohen Alter von 89 Jahren im November des vergangenen Jahres verstorben ist. Ganz besondere Aufmerksamkeit dürfte Yamada aber nochmal durch eine westliche Verfilmung seines Romans "Sommer mit Fremden" zukommen, der von Andrew Haigh nochmal als moderner Großstadtfilm mit zeitgemäßen Themen neu verfilmt wurde.

Am 01.03.2024 verstarb ein japanischer Künstler, der eigentlich gar nicht mehr vorgestellt werden müsste. Mit Akira Toriyama ist eine Mangaka-Legende verstorben, die mit Dragonball viele Kindheiten geprägt und inspiriert haben dürfte. Seinen 69. Geburtstag im April sollte er nicht mehr überleben, Akira Toriyama verstarb überraschend mit 68 Jahren. Es mutet für die unzähligen Fans, Weggefährten und Künstler aus diversen Szenen immer noch surreal an, dass es ihn nicht mehr gibt. Akira Toriyama war kein Mann, der durch viele öffentliche Auftritte bekannt war. Aktuelle Fotos von ihm sind rar und doch war sein Name noch so präsent. Toriyama, der auch für Dr. Slump sowie eine menge Kurzgeschichten bekannt war, arbeitete auch bis zuletzt noch an neuen Dragonball Charakteren und Geschichten, obwohl er die kreative Leitung vor vielen Jahren schon jüngeren Künstlern überlassen hat. So gab er dem Mangaka Toyotarō seinen Segen dafür, die Manga-Adaption von Dragonball Super zu zeichnen. Doch allen voran wird man sich an Toriyamas ikonische Character-Designs erinnern, die man auch in nicht minder bekannten Videospielen wiederfindet. Seit jeher designte Akira Toriyama die Charakter-Illustrationen für die legendäre japanische Rollenspielreihe Dragon Quest von Enix. Doch auch Squaresoft (später dann mit Enix zu Square Enix fusioniert) sicherte sich für Chrono Trigger seine Dienste und gemeinsam mit Final Fantasy Schöpfter Hironobu Sakaguchi und Dragon Quest Schöpfer Yūji Horii bildete man das "Dream Team". Der Einfluss von Akira Toriyama kann kaum höher geschätzt werden. Am 26.04 erscheint zudem das Videospiel Sand Land von Bandai Namco und welches auf eine von Toriyamas kürzeren Geschichten basiert. Die Veröffentlichung des Spiels wird nun sicherlich unter einem anderen Zeichen stehen.

Taichi Yamada und Akira Toriyama. Zwei Namen, mit denen ich schöne Erinnerungen verbinde. Darauf habe ich natürlich kein Exklusivrecht. Beide Männer sind nun ein neues Abenteuer angetreten und auf meine Frage in der Überschrift hat keiner von uns eine Antwort. Aber die Träume, die sie zu Lebzeiten geträumt und uns hinterlassen haben, bleiben uns für immer erhalten.


またね

Montag, 26. Februar 2024

Review: Der Junge und der Reiher



Japan 2023

Der Junge und der Reiher
Originaltitel: 君たちはどう生きるか (Kimitachi wa Dō Ikiru ka)
Produktion: Studio Ghibli
Regie: Hayao Miyazaki
Soundtrack: Joe Hisaishi
Japanischer Sprecher-Cast: Soma Santoki, Masaki Suda, Aimyon, Ko Shibasaki, Takuya Kimura
Laufzeit: Circa 124 Minuten
Genre: Animationsfilm, Fantasy
FSK: Ab 12



Ein kalter Januarabend neigt sich dem Ende. Während aus einem der Nachbarsäle unerträglicher Lärm eines anderen Films donnert und mein mir unbekannter Sitznachbar 120 Minuten lautstark Popcorn in sich hineinschaufelte wie ein Bagger Erde aufwühlt, erscheint der Abspann zum ersten neuen Studio Ghlbi Film seit über 4 Jahren und über 10 Jahre seit "Wie der Wind sich hebt", bei dem Animationsmeister, Nikotin Yo-Kai und "Never-Ending Man" Hayao Miyazaki, Regie führte. Streng genommen. Blickt man aber weiter zurück, war der letzte große Studio Ghibli Spielfilm der im Jahr 2014 veröffentlichte "Erinnerungen an Marnie" von Hiromasa Yonebayashi. Es folgten der teilweise extern produzierte "Die rote Schildkröte" aus dem Jahr 2016 sowie der recht maue 3D-Animationsfilm "Aya und die Hexe" aus dem Jahr 2020, bei dem Miyazakis Sohn Goro erneut Regie führte.

Die Lichter gehen an und ich blicke mich im Kinosaal um. Da es schon nach 20 Uhr ist, befinden sich in dem ziemlich vollen Kinosaal ausschließlich Erwachsene. Mein Blick in alle Richtungen will den Stimmungscheck einfangen. Von Begeisterung über Unglauben war alles dabei. Für Miyazakis Rücktritt nach dem Rücktritt nach dem Rücktritt sind sie alle noch einmal versammelt, um zu sehen, was der Altmeister aufs Zelluloid gebannt hat. Und in dem Moment, als Hayao Miyazaki sich entschieden hat, dass es keinen Sinn mehr macht, immer wieder seinen Rücktritt zu verkünden, dachte er sich, könne er auch einfach für immer weiter machen. So ist "Der Junge und der Reiher" nicht der von vielen Kinoprogrammen zitierte Abschiedsfilm eines legendären Filmmagiers, sondern der erste Schritt in die Unsterblichkeit. Und das, obwohl "Der Junge und der Reiher" durchaus auch ein Werk sein könnte, mit dem man sich von der ganz großen Bühne verabschieden könnte. Beweisen muss Miyazaki niemandem mehr etwas, bereits "Wie der Wind sich hebt" hätte ein reifes Abschiedswerk sein können. Doch allen voran möchte Miyazaki mit seinen Spätwerken noch einmal beweisen, wie viel Magie und Zauberei in traditioneller Animationskunst liegt. Keine billigen Taschenspielertricks und falscher Zauber, sondern die pure Leidenschaft, Bilder zum Leben zu erwecken.




Die Geschichte ist angesiedelt im Jahr 1943 während den Unruhen des Pazifikkriegs. Erzählt wird die Geschichte des jungen Mahito, der während eines Brands seine Mutter verliert. Einige Zeit später heiratet Mahitos Vater die jüngere Schwester seiner verstorbenen Frau. Für Mahito beginnt eine schwere Zeit, einen Platz im Leben zu finden und allen voran seinen Lebensweg zu finden. Als er im neuen Anwesen auf dem Land immer wieder von einem mysteriösen, penetranten Reiher heimgesucht wird, gerät Mahitos Leben ins wanken und er wird in eine Welt gesogen, die so ganz anders als die Welt ist, in der er aufgewachsen ist und sich letztendlich doch gar nicht so sehr von dieser unterscheidet.

Miyazaki begibt sich mit dem Film auf Gefilden des südamerikanischen magischen Realismus. Allen voran fühlte ich mich an die Werke von Gabriel García Márquez erinnert und seinem wohl bekanntestem Werk: "Hundert Jahre Einsamkeit". Kam "Wie der Wind sich hebt" mit Ausnahme einiger Traumszenen mit wenig Fantasy-Elementen aus, macht Miyazaki bei seinem neusten Film eine Kehrtwende und nimmt die Zuschauer mit in eine fremde Welt, die nicht nur geheimnisvoll, sondern auch schwer zu erklären ist. Bildgewaltig und mit überraschend wenig Dialogen präsentiert uns das Studio Ghibli diese fremdartige, exotische Welt, die irgendwo zwischen Leben und Tod pendelt. Eine Zwischenwelt. Eine Art japanische Interpretation von Lewis Carrolls Alice Romanen. Besonders einige ältere Zuschauer dürften hier im Gegensatz zu Kindern, die entspannt die Bilder auf sich wirken lassen können, viele Fragen stellen. Allen voran Fragen, die im Verlaufe des Filmes nicht beantwortet werden. Dafür respektiere ich "Der Junge und der Reiher" zutiefst. Miyazaki zeigt, was er zeigen möchte. Dabei ist die Geschichte um den jungen Mahito gar nicht so schwer zu begreifen. Miyazaki revolutioniert hier erneut nicht die Art, eine Geschichte zu erzählen. Dies wird er niemals, egal, wie viele Filme er noch produzieren wird. Blickt man auf die Werke zurück, an die Miyazaki leidig und auf's neue immer wieder gemessen wird, so wird auch schnell klar, weder Prinzessin Mononoke noch Chihiro glänzen durch raffiniertes Storytelling. Miyazakis Stärken liegen in seinen Bildern und in die teilweise überzeichneten Charaktere. Die Zuschauer nehmen in "Der Junge und der Reihe" die Rolle von Mahito ein. Gemeinsam gehen wir mit ihm auf eine Reise. Und das Ziel dieser Reise ist es, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden, die richtigen Entscheidungen zu treffen und sich auch bewusst zu sein, die Vergangenheit nicht rückgängig machen zu können. Blicken wir auf den japanischen Originaltitel des Films "Kimitachi wa Dō Ikiru ka" - wörtlich übersetzt bedeutet das so viel wie "Wie möchtest du Leben", wird die Botschaft des Films sogar noch deutlicher. Der Titel ist natürlich eine direkte Hommage an einen Roman von Genzaburo Yoshino, den Miyazaki hier auch als Inspiration anführte. Eine menge Zuschauer im Kino schienen Probleme zu haben, dem Film folgen zu können, aber vielleicht haben sich einige Leute wirklich zu viele Gedanken gemacht, denn der Film folgt einem relativ geradlinigen Fahrt, ohne den Zuschauern aber alles vorkauen und erklären zu müssen.

Etwas weniger im Ohr ist mir der Soundtrack von dem großartigen Joe Hisaishi geblieben. Miyazakis Filme sind nahezu unmittelbar mit den Melodien von Joe Hisaishi verknüpft. Doch sind die Melodien in "Der Junge und der Reiher" nicht schlecht, es fehlt vielleicht nur ein prägnantes Main-Theme, welches durch den Film führt.




Fazit

Würde man nicht wissen, wer den Film gemacht hat und würde er noch unter den Lebenden weilen, könnte man glatt meinen, Satoshi Kon habe bei "Der Junge und der Reiher" Regie geführt. Viele Elemente aus Kons Traumwelten finden Einzug in Miyazakis Fantasyfilm. Aber bei genauem hinsehen ist "Der Junge und der Reihe" ganz unverkennbar dann doch ein klassischer Hayao Miyazaki Film. Bildgewaltig und voller Bildmagie, die man gesehen haben muss, um sie beschreiben zu können. Detailverliebt bis in die hintersten Ecken eines jeden Zeichenstrichs. Gleichzeitig für viele, die mit Studio Ghibli und Hayao Miyazaki andere Filme verbinden, aber auch sicherlich ein wenig ungewohnt, vielleicht sogar etwas befremdlich. All das täuscht aber nicht darüber hinweg, dass es sich bei "Der Junge und der Reiher" um ein beeindruckendes Spätwerk eines großen Künstlers unserer Zeit handelt. Im Film spielen auch Türen eine wichtige Rolle. Eine Tür gibt es auch für den Zuschauer. Findet er nicht die richtige, dann kann ihm die Tür zum Zugang des Filmes aber auch verwehrt bleiben. Lässt man sich auf den Film aber unvoreingenommen ein, so öffnet sich einem die Tür, die in eine unbekannte Welt führt, die man am liebsten viel länger erkunden möchte, als die Laufzeit dieses  Animationsfilms hergibt. Wie möchtet ihr Leben? Dieser Film bringt euch die Antwort vielleicht etwas näher.
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Rezension verfasst von Aufziehvogel

Diese Besprechung wurde bis auf das Fazit bereits am 14.01.2024 fertiggestellt und sollte ursprünglich auch an diesem Tag veröffentlicht werden. Teile aus dem Fazit habe ich aus einem von mir erstellten Forum-Beitrag zum Film übernommen, da diese sehr gut zu meiner vollständigen Besprechung passten.

Montag, 15. Januar 2024

Wühlkiste: Winter Academy - Die Erbin des Mondsteins (Seasons of Fate 1)

 
Winter Academy. Seasons of Fate



Deutschland 2023

Winter Academy. Die Erbin des Mondsteins (Seasons of Fate 1)
Autorin: Karolyn Ciseau
Verlag: Selbstverlag
Genre: Fantasy, Romantasy
Format: eBook, gebundene Ausgabe


Es ist Winter, ich mag Winter und Schnee, warum also nicht ein Buch in entsprechendem Setting lesen. So dachte ich, als mir "Winter Academy" von Karolyn Ciseau beim Scrollen regelrecht vor die Füße purzelte.

Hauptperson der Geschichte ist die 18-jährige Mina Goodwin. Sie geht erst seit Kurzem auf die sogenannte Winter Academy, eine Art Internet für in Eismagie begabte Jugendliche, da ihre Kräfte erst spät zutage traten. Sie kann diese Kräfte allerdings auch nach Monaten nicht einmal im Ansatz beherrschen und gerät deshalb ständig in Schwierigkeiten und sogar Lebensgefahr. Schnell zeichnet sich aber ab, dass ihre Kräfte nicht nur besonders unkontrollierbar sondern auch sehr stark sind. Bei einer Übung wird Mina an den Hof des Winterkönigs, des Gegenspielers, verschleppt, der sie zu seiner Braut machen will. Als Professor Abercroft auftaucht, Minas Lehrer, der nach ihrer Annahme ein Spion des Winterkönigs ist, gleichzeitig aber Gefühle in ihr weckt, muss sie entscheiden, ob sie ihm vertrauen soll, um überhaupt eine Chance auf ein Entkommen zu haben.

Ich muss sagen, dass ich mich sehr schwer mit diesem Buch tue. Erstmal ist schnell zu merken, dass sich mit beiden Händen bei Anderen bedient wurde. Die Winteracademy ist ein wenig Xaviers Institut für begabte Jugendliche oder wohl mehr, da mit Magie und weniger mit Mutantenkräften um sich geworfen wird, Hogwarts, angelehnt. Allerdings haben die Magier hier keine Zauberstäbe sondern Kurzschwerter. Durch das Bild, das dann in meinem Kopf entstand, konnte ich das Magiewirken nicht mehr ernst nehmen. Der Winterkönig ist vielleicht ein wenig der Nachtkönig, vielmehr ist er allerdings Elsa in seinem Schloss aus Eis. Dann gibt es noch nicht gerade ungefährliche Schulturniere, die von allen regelrecht gehypt werden ... haben wir auch schon mal so gelesen, nur mit weniger Schnee und mehr Besen und Bällen. Die Schulleiterin ist, von ihrer Vorliebe für Selbstgebackenes, das sonst keiner ausstehen kann einmal abgesehen, einer anderen (späteren) Schulleiterin nachempfunden, inklusive Dutt, also eigentlich so wie in der Verkörperung durch die grandiose Maggie Smith dargestellt.

Wenn wir dann schon bei Personen sind, gibt es da Professor Ethan Abercroft. Natürlich der Beste in allem, hat die Schule in Rekordzeit abgeschlossen und ist nach nur zwei Jahren als Lehrer zurück und damit kaum älter als Mina. Dunkel, geheimnisvoll, arrogant, abweisend und kalt Mina gegenüber, verhasst von allen und irgendwie mit sowohl "Guten" als auch "Bösen" eng verbunden. So jemand hat bereits in den 1990er Jahren in einigen Büchern einem Zauberlehrling das Leben schwer gemacht.

Wenn das Fanfiction sein soll - und ich bin mir nicht mal sicher, ob das das Ziel war oder vielmehr ein Zusammenklauen und Hoffen, dass es keiner merkt - dann ist das jedenfalls nicht gut gelungen. Und nein, ich bin tatsächlich kein Fan der Bücher (oder Filme) um jenen Zauberlehrling, daher kommt diese Aussage von keinem fanatischen Fan, wie es sie ja auch in gar nicht mal kleiner Zahl gibt.

Sprachlich liest es sich in Ordnung. Wirkliche Welten konnte die Autorin zwar keine vor mein inneres Auge malen, aber immerhin sind auch keine größeren grammatikalischen Katastrophen oder dergleichen vorhanden. Über den Inhalt kann das leider nicht wegtrösten.

Mina ist übrigens eine dieser unsympathischen Heldinnen: Ständig in Schwierigkeiten, muss immer gerettet werden, man fragt sich, wie sie es allein überhaupt schafft zu atmen, aber eigentlich ist sie ja super-toll und die Beste. Sieht nur noch keiner. Dazu ist sie arrogant und verhält sich wie ein störrisches Kleinkind, macht aus Prinzip immer anderes als man ihr sagt und das selbst in Situationen wo gar nicht offensichtlicher sein könnte, dass das völliger Schwachsinn ist. Soll das süß sein, sympathisch? Ich weiß es nicht, so jemand im echten Leben wäre erstens gar nicht überlebensfähig und zweitens komplett unerträglich.

Dann ihre Schwärmerei für Ethan Abercroft. Er mobbt sie regelrecht, macht sie und die anderen Schüler fertig. Trotzdem schwärmt sie irgendwie für ihn, erst noch im Verborgenen, wobei die Versuche, das darzustellen auch eher plump sind, dann hat bald nichts mehr in ihrem Kopf Platz außer Abercroft. Drama und angeknackstes Vertrauen und das Ganze inklusive, also später dann. Wie dargestellt wird, dass sie sich näher kommen, finde ich im günstigsten Falle schwierig. Dazu erstmal ein Zitat, das sich auch im Internet unter der "Produktbeschreibung des Verlags" findet:

Professor Abercroft war näher gerückt. Seine leise, dunkle Stimme war nun ganz dicht an meinem Ohr, und ich roch den Duft von Minze und Lavendel. Ich stieß überrascht die Luft aus, als er eine Hand auf meine Brust legte, dorthin, wo mein Herz wild schlug.
"Spüren Sie die Hitze?"
Er meinte die Hitze der Magie. Das Feuer, das in meinem Herzen brennen und das ich mithilfe des Zauberspruchs zum Leben erwecken sollte. Aber ich spürte eine ganz andere Hitze. Eine, die von seiner Hand auf meiner Brust, seinem Körper dicht an meinem ausging.

Schwierig, wenn nicht gar übergriffig. Ich möchte keine Grundsatzdiskussion führen, man sollte aber vielleicht dennoch darüber nachdenken, dass andere, fremde Menschen (in diesem Fall auch noch Schülerin, geringer Altersunterschied hin oder her) anfassen nicht okay ist, besonders nicht auf diese Art. Hätte ich eine Tochter, die mir von so einem Vorfall berichten würde, dann wären aber alle Alarmglocken an. Nicht vergessen, an dieser Stelle finden sich, zumindest offiziell, beide noch alles andere als anziehend oder gehen auch nur freundlich miteinander um. Direkt im Anschluss an diese Szene küsst Abercroft Mina dann - gut, er küsst sie eigentlich nicht, sondern "trinkt" ihre Magie (indem er sie küsst), die außer Kontrolle gerät und sie zu verbrennen droht, aber wenn ich nicht ganz verzweifelt eine Situation mit Nähe dieser Art konstruieren wollte, ließe sich da auch ein anderer Weg finden. Diese gesamte Situation hätte sich so viel schöner und eleganter lösen lassen können, mit anfassen, mit küssen, was auch immer.

Zum Cover lässt sich abschließend sagen, dass es zwar ganz nett ist, aber mir nicht besonders aufgefallen ist. Auch ist die Frau auf dem Cover in meinem Kopf nicht mit der Mina aus dem Buch selbst in Einklang zu bringen sondern ist eher eine generische Gestalt um das Interesse zu wecken.


Abschließende Gedanken

Ich habe wenig erwartet. Und wurde enttäuscht. Viel mehr kann ich dazu eigentlich kaum sagen. Es beginnt bei unglaubwürdigen und unsympathischen Charakteren und endet nicht mal beim ungeschickten zusammenschustern einer vermeintlichen Liebesgeschichte mit Fantasy-Elementen. Fast möchte man zudem meinen, die Autorin hätte selbst eine Art Schwärmerei für Abercroft entwickelt und würde ihn für sich selbst wollen, wäre da nicht das kleine Problem namens Mina (und das größere, dass er eine fiktionale Gestalt ist). Schade eigentlich, denn das Ganze hätte Potential gehabt.




Rezension verfasst von Lavandula