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Dienstag, 27. Oktober 2015

Rezension: Kopfkissenbuch (Sei Shonagon)

(Foto: Aufziehvogel)






Japan um 1000

Kopfkissenbuch
Autorin: Sei Shōnagon
Originaltitel: Makura-no-Soshi
Veröffentlichung: 12. Oktober 2015 bei Manesse
Neue und ungekürzte Übersetzung: Michael Stein
Genre: Uta Nikki, Klassische Literatur


"Zur kühleren Abendstunde in der allerheißesten Jahreszeit, wenn es so dunkel ist, dass man kaum noch etwas sieht, wirkt der Anblick eines Herrenwagens -  es muss durchaus kein hochherrschaftlicher Wagen mit Vorreitern sein -, in dem ein oder zwei Männer mit hochgerollten hinteren Jalousien einherfahren, erfrischend auch mich. Und wenn dazu noch das Spiel auf einer Biwa oder der Klang einer Querflöte ertönt, bedauere ich es zutiefst, wenn der Wagen vorbei- und weiterfährt. Es ist eine meiner Marotten, dass ich bei solchen Gelegenheiten den Geruch des Zuggeschirrs des Ochsen reizvoll finde, ein strenger Geruch eigentlich, den man eher ungern in Kauf nimmt.
Wenn es ganz dunkel ist und mondlose Finsternis herrscht, gefällt es mir, wenn der Geruch vom Rauch der brennenden Fackeln in den Händen der Vorreiter ins Wageninnere hereinweht."
(Sei Shonagon - Kopfkissenbuch, Manesse Verlag, Übersetzung: Michael Stein)


Vor über 1000 Jahren, wo sich manche Völker noch mit Steinen und Keulen bekriegten, feierte Japan nicht nur einen der ersten Romane überhaupt, sondern auch seinen ersten literarischen Star. Denn noch zu ihren Lebzeiten erfuhr die Hofdame Sei Shonagon, wie populär ihre Niederschriften wurden. Und obwohl es für uns vermutlich unvorstellbar ist, aber sogar an ein ausführliches Nachwort hat die Autorin gedacht. Historiker waren der redefreudigen Hofdame für so reichhaltige Informationen natürlich sehr dankbar. Und dennoch hat Sei Shonagon ein großes Mysterium hinterlassen. Anders als beim Genji Monogatari, welches in seiner Vollständigkeit nicht komplett sicher der Hofdame Murasaki Shikibu zugeordnet werden kann (das Thema ist bis heute unter Historikern und Japanologen sehr kontrovers diskutiert), so kann man sich bei der ehrenwerten Hofdame Sei Shonagon schon ziemlich sicher sein, dass das komplette Werk, ihr Kopfkissenbuch, auch aus ihrer Feder entsprungen ist. Obwohl das Leben der Sei Shonagon und ihrem Hauptwerk so gut datiert ist, fehlen leider, man kann schon sagen, beinahe vollständig Informationen darüber, wo sie ihren Lebensabend verbrachte und wie und wann sie gestorben ist. Es scheint, als hätte sie sich wie ihre Schriftsteller-Kollegin Murasaki Shikibu in Luft aufgelöst. Was die ehemalige Hofdame aber hinterlassen hat, ist ein mehr als beeindruckendes Vermächtnis der Weltliteratur.

Wer beim Kopfkissenbuch eine epische, dramatische Geschichte wie beim Prinzen Genji erwartet, der wird sich wundern. Das Kopfkissenbuch der Sei Shonagon ließt sich nämlich wie ein Tagebuch, welches gefüllt ist mit den alltäglichen Geschehnissen am kaiserlichen Hofe von Kyoto. Genau so wenig darf man aber auch einen steifen, langatmigen Wälzer erwarten. Es ist sogar das komplette Gegenteil der Fall. Die Hofdame Sei Shonagon versteht es nämlich bestens, den Leser zu unterhalten. Mit vielen kleinen Anekdoten aus dem Alltag am Hofe schildert sie eine sehr persönliche Sichtweise über eine Zeit, in die wir uns nur noch schwer hineinversetzen können. Überraschend dabei ist, wie frei, offen und amüsant die Autorin die Geschehnisse schildert. Ob nachdenklich, humorvoll oder auch mal sehr frech, Sei Shonagon hat all ihre Facetten in diesen kleinen Geschichten und Gedichten verewigt.

Eine der wenigen Kontroversen, die über die Jahre im Bezug mit dem Kopfkissenbuch entstanden sind, ist die Frage nach einer chronologischen Reihenfolge der Einträge. Darauf gibt die Autorin nur wenige konkrete Hinweise. In den ersten Einträgen des Kopfkissenbuches wird jedoch klar, dass Autorin den Menschen, die am Hofe dienen, noch neidisch hinterherblickt. Überliefert ist, das die Hofdame Sei Shonagon erst relativ spät in ihrem Leben zu einer echten Hofdame am kaiserlichen Hof wurde. Mit ungefähr 30 Jahren diente sie der schönen wie sanften jungen Kaiserin Sadako, zu der sie schnell ein freundschaftliches Verhältnis aufbaute. Sei Shonagon brauchte nicht lange, um sich am Hofe einzuleben. Dem Leser wird außerdem relativ schnell klar, die Autorin tratscht auch mal gerne und ist des öfteren in Lästerlaune.
Dies gewährt dem Leser einen unglaublich heiteren, aber auch intimen Einblick in eine Welt, die wir uns vermutlich als sehr traditionell, streng und antiquiert vorstellen. Dabei sind die Themen, über die die Autorin schreibt, auch heute noch teilweise erfrischend aktuell. All die kleinen Geschichten sind mit einer Leichtigkeit geschrieben, dass man sich kaum vorstellen kann, man habe es mit einem über 1000 Jahre alten Text zu tun.


"120 Was würdelos aussieht
Ein großes Schiff, das bei Ebbe auf einer Sandbank festsitzt.
Ein großer Baum, der vom Sturm entwurzelt wurde und nun mit dem Wurzelwerk nach oben umgestürzt daliegt.
Ein Mann von niederem Stand, der seine Gefolgsleute anschreit.
Eine Ehefrau, die wegen irgendeiner Belanglosigkeit beleidigt das Haus verlässt, weil sie meint, dass ihr Mann sie verzweifelt suchen werde. Der aber denkt gar nicht daran, sondern nimmt es zu ihrem größten Ärger gelassen, sodass sie schließlich, weil sie nicht immerzu auswärts übernachten kann, von selbst wieder zurückkommt."
(Sei Shonagon - Kopfkissenbuch, Manesse Verlag, Übersetzung: Michael Stein)


Zur vorliegenden Ausgabe

Bereits am 09. Oktober habe ich einen Beitrag verfasst, der sich ausführlich mit der optischen Ansicht der neuen Ausgabe des Kopfkissenbuches befasst: Vorschau - Kopfkissenbuch
In diesem Abschnitt möchte ich mich jedoch diesmal auf den Inhalt konzentrieren. Ich muss aber dennoch einmal anmerken, dass ich nur selten eine für den privaten Gebrauch, bibliophile Ausgabe in den Händen gehalten habe, welche sich so hochwertig anfühlt, wie diese Neuausgabe.

Die große Kritik in den vorherigen Ausgaben des Kopfkissenbuches lag darin, inhaltlich gekürzt zu sein. Selbst die bislang umfangreichste deutsche Übersetzung von Mamoru Watanabe war nicht nur gekürzt, sondern leider auch durch viele andere westliche Handschriften/Übersetzungen des Kopfkissenbuches vom Ton und Verständnis her alles andere als originalgetreu. Man könnte sagen, alle erhältlichen Ausgaben wurden verwestlicht. In der neuen Hardcover-Ausgabe vom Manesse Verlag liefert Michael Stein eine von den japanischen Herausgebern autorisierte, ungekürzte Neuübersetzung ab. In einem ausführlichem Nachwort des Übersetzers, erwähnt Michael Stein wie wichtig es nicht nur war, eine ungekürzte deutschsprachige Ausgabe zu präsentieren, sondern auch eine sprachlich moderne und verständliche Übersetzung abzuliefern, die aber dennoch den Stil von Sei Shonagon beibehält. Die neue Übersetzung ließt sich nicht nur flüssig, es wurden auch zahlreiche interessante Fußnoten zu etlichen Begriffen und Situationen hinzugefügt. Wer sich also durch das Kopfkissenbuch gelesen hat, der sollte auf keinen Fall dort schon das Buch zuklappen, denn was folgt, sind extrem interessante Anhänge, die für mich das Gesamterlebnis einfach abrundeten. Neben dem ausführlichem Kommentar von Übersetzer Michael Stein gibt es zahlreiche Infos zum Leben der Sei Shonagon, einen Glossar und ein Personenregister. Ganz besonders interessiert war ich an dem Abschnitt, in dem die verschiedenen Ausgaben und Handschriften besprochen wurden. Nicht nur äußerlich macht die Neuausgabe was her, auch inhaltlich hat sich diese Ausgabe meine Hochachtung verdient.


Resümee

Man kann mit großer Gewissheit sagen, die beiden Hofdamen Sei Shonagon und Murasaki Shikibu lebten zur gleichen Zeit. Im Tagebuch der Murasaki Shikibu äußert sich die Autorin relativ abschätzig über Sei Shonagon. Genau genommen wirft sie ihr Hochnäsigkeit und Arroganz vor. Zum einen sind die Worte von Murasaki Shikibu nicht ungewöhnlich, da die beiden Damen anscheinend aus rivalisierenden Häusern stammten. Aber auch an sich kann ich mich Murasaki Shikibus Ansicht nicht anschließen.
Es stimmt, Sei Shonagon besaß in ihrem Schreibstil das gewisse Etwas, was sich zuerst ein wenig arrogant liest. Je weiter ich aber im Kopfkissenbuch voran kam, desto mehr lernte ich die freche, manchmal sogar herablassende art zu schätzen. Sei Shonagon war nicht nur eine selbstbewusste Frau, sie war außerdem unglaublich modern, teilte sowohl gleichermaßen an Männern und Frauen aus. Ihren großen Traum, am Hofe zu dienen, hat sie sich erarbeitet und erfüllt. Für die Autorin, so ist es unschwer in den Texten zu erkennen, war dies die schönste Zeit ihres Lebens. Und trotz all der Selbstbewusstheit kam auch häufig ein anderer Charakter der Autorin zum Vorschein: Sie war verträumt, ein wenig naiv was viele ihrer Ansichten anging, und gleichzeitig auch eine einfühlsame Person. Es dürfte wohl kaum charmantere Erzählungen vom Leben am Kaisershof in Kyoto geben, als das Kopfkissenbuch.

Makura no soshi. Der Originaltitel des Kopfkissenbuches. Ein Buch, was selbst die Kleinsten in Japan bereits kennen. In Deutschland dürfte diese Bekanntheit wesentlich zurückhaltender sein. Das dieser Klassiker der Weltliteratur aber nun endlich in seiner ungekürzten Schönheit vorliegt, kann man dem Manesse Verlag wieder einmal hoch anrechnen. Diese Übersetzung war überfällig und wurde von Liebhabern japanischer Literatur seit vielen Jahren gefordert. Diesem Wunsch ist man nachgekommen und hat nicht nur optischen einen Hingucker gelandet, sondern auch inhaltlich eine deutsche Ausgabe abgeliefert, die Sei Shonagons Kopfkissenbuch den gebührenden Respekt zollt.

Und wer wissen möchte, was nun eigentlich ein Kopfkissenbuch eigentlich ist, auch dazu hat die Autorin in ihrem Nachwort noch eine amüsante Anekdote auf Lager.

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