Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Freitag, 30. Oktober 2015

Rezension: Mädchen für alles (Charlotte Roche)



(Foto: FAZ)




Deutschland 2015

Mädchen für alles
Autorin: Charlotte Roche
Veröffentlichung: 05. Oktober 2015 bei PIPER
Genre: Schwarze-Komödie



"Lenk dich ab, Chrissi. Ich gucke mal, was es so gibt. Gebe den Suchbegriff  >>Rolex Oyster<< bei eBay ein. Ich kenne mich gar nicht aus, habe aber mal was von Oyster gehört, die sieht aus wie aus Perlmutt, und das finde ich schön. Hätte ich früher nicht zugegeben. Aber jetzt wird mein Herz weich, wegen der besonderen Umstände. Es gibt hier eine mit helllila Schimmer. So was Kitschiges würde ich mir normalerweise nicht erlauben, aber jetzt istz alles anders. Alles ist erlaubt, die letzten Tage. Schön, dass nur ich das weiß, dann kann ich es auch genießen, wenn die anderen das wüssten, würden sie es mir sicher versauen, mich traurig angucken und schrecklich anstrengende Gespräche führen. 2400 Euro. Oopsi! Ich kaufe mir die erste teure Uhr meines Lebens, sonst immer nur so beschissene kleine Flohmarkt-Damenührchen, ich esse auch aus dem gleichen Grund jetzt schon jeden Tag das teure Angussteak vom REWE, wo diese geilen kleinen Päkchen Pfeffermischung mit Salz dabei sind."
(Charlotte Roche, Mädchen für alles, PIPER Verlag)



Ist noch platz für ein drittes Tattoo auf Charlotte Roches rechten Unterarm? Könnte schwierig werden, wenn ich mir mal das Cover ihres neusten Romans "Mädchen für alles ansehe". Zumindest sollte sie etwas Platz dafür einplanen.

Charlotte Roche hatte sich nie konkret dazu geäußert, ob sie nach Schoßgebete einen weiteren Roman verfassen wird. Da ein Deal mit einem großen Verlag aber meistens mit einen Vertrag von mindestens zwei Büchern mit sich bringt, und Miss Roche auch aus rein kommerzieller Sicht gar keinen Grund hat, mit dem Schreiben aufzuhören, war ein dritter Roman durchaus denkbar.
Und genau so kam es dann auch. Beinahe in Ninja-Manier hat der PIPER Verlag Charlotte Roches neuen Roman veröffentlicht. Als ob sie ein Mädchen für alles gehabt hätten, das die Regale in den Buchhandlungen auffüllt (werde die 5 Cent gleich ins Schweinchen für Gags werfen, deren Verfallsdatum abgelaufen ist).

Da ich es genieße, Kundenrezensionen auf Amazon zu lesen, war ich wenig überrascht über die Bewertungen, die dort zu finden sind. Anscheinend hat man sich aber diesmal unter den Kunden auf folgendes geeinigt: "Also im Gegensatz zur restlichen Bevölkerung fand ich die Vorgänger richtig gut, aber mit Mädchen für alles hat Charlotte Roche dafür gesorgt, dass ich nie wieder ein Buch von ihr lesen werde". Ich bin mir sicher, sollte die Autorin einen vierten Roman bringen, wird man das gleiche über diesen schreiben. Und eines sollte ja mittlerweile bekannt sein, es hat grundsätzlich niemand die Bücher von Charlotte Roche gelesen, keiner hat die Filme gesehen, aber dennoch können irgendwie immer alle mitreden.

Doch worum geht es denn in Charlotte Roches drittem Streich? Bei genauerer Betrachtung kann man wohl Feuchtgebiete, Schoßgebete und Mädchen für alles als eine voneinander unabhängige Trilogie sehen. So handhabt man es ja bei Lars von Trier in der Filmwelt, so wird sein Dreierpack "Antichrist", "Melancholia" und "Nymphomaniac" liebevoll die "Depression Trilogy" genannt.
Als Ausgangspunkt kann man erneut Feuchtgebiete nehmen. Sehen wir Feuchtgebiete als das Hauptszenario an, könnten Schoßgebete und Mädchen für alles zwei verschiedene Routen im Leben der jungen Helen Memel darstellen, der Protagonistin aus Feuchtgebiete. Eine Route verläuft zu Schoßgebete, eine alternative Route führt zu Mädchen für alles. Denn, ganz ohne Frage, könnte in beiden Büchern eine erwachsene Helen die Protagonistin sein. Man kann allerdings nicht behaupten, dass auch nur irgendeine dieser beiden Routen besonders vorteilhaft für die arme Helen ausgegangen sind.

Die Geschichte in Mädchen für alles dreht sich um die Hausfrau Christine, die mit ihrem Jörg zumindest finanziell den perfekten Mann geheiratet hat. Als Jörgs kleiner Bruder in ihrem Haus seine Hochzeit feiert, wird Christine wieder einmal bewusst, wie eintönig und langweilig ihr Leben doch ist. Für die Gäste findet sie nur Verachtung und weiß schon gar nicht mehr, ob sie ihre herablassenden Gedanken denkt oder ausspricht. Aber es kümmert eh keinen, denn die Wodka-Melonen sind prall gefüllt und die Gäste sind abgefüllt, inklusive Chrissi selbst, die sich gleich direkt ganze Gläser heimlich mit Wodka zur feier des Tages auffüllt. In einem Gespräch hört Chrissi zu, wie sich Jörg mit einem anderen Gast unterhält, und dem zustimmt, sich bald eine Babysitterin zu suchen. Chrissi ist überrascht über die Pläne ihres Mannes, der Idee aber nicht abgeneigt. Töchterchen Mila soll also eine Babysitterin bekommen, und Chrissi, ohne dass es ihr in diesem Moment bereits bewusst ist, ein Mädchen für alles. Als die schöne Marie ihr Haus zum Vorstellungsgespräch betritt, ist nicht nur Ehemann Jörg von der jungen Medizinstudentin angetan, auch Chrissi wird schnell klar, dass diese Babysitterin ihr Ticket aus ihrem eintönigem Leben sein könnte.

Wer jetzt vielleicht denkt, Charlotte Roche könnte mit ihrem dritten Roman auf anspruchsvolle Weltliteratur umgestiegen sein, die bei Denis Scheck in Druckfrisch als Buch des Monats deklariert wird, der wird wieder einmal enttäuscht werden. Mädchen für alles legt den Fokus, und darüber bin ich sehr dankbar nach Schoßgebete, wieder voll auf Unterhaltung. Im Mittelpunkt stehen dabei wieder die unglaublich amüsanten, aber teilweise auch anstrengenden Selbstgespräche der Protagonistin. Der Humor ist pikant (jedoch längst nicht so pikant wie noch in Feuchtgebiete). Es ist, wie immer, ein spezieller Humor, den viele vermutlich einfach zu plump und intim finden werden.
Aber es ist tatsächlich dieses schnörkellose, lose Mundwerk der Autorin, das diesen sehr expliziten Stil ausmacht. So viel noch einmal zum Thema anspruchsvolle Weltliteratur.
Wie immer geht Charlotte Roche mit den teils surrealen Gedankengängen ihrer Protagonistin aber auch etwas zu weit. Oftmals baut sie wirre Wortkreationen ein, von denen ich noch nie etwas gehört habe und es mir vorkommt, als hätte eine pubertierende Vierzehnjährige in diesem Moment übernommen. War Charlotte Roche in Schoßgebete zu ernst, ist sie in Mädchen für alles schon wieder etwas zu verspielt.

Die ersten rund 100 Seiten deuten tatsächlich darauf hin, dass auch Mädchen für alles nach dem Feuchtgebiete/Schoßgebete Schema ablaufen wird. Allerdings hatte die Autorin diesmal wirklich einen recht perfiden Twist auf Lager, der mich schon relativ überraschte und meinen Gesamteindruck doch noch einmal wesentlich aufgewertet hat.


Resümee

"Mädchen für alles" ist ohne einen großen Knall erschienen. Es gab keinen Skandal vor der Veröffentlichung und auch nicht danach. Es ist beinahe so, als habe die deutsche Leserschaft längst das Thema um die ehemalige, verspielte VIVA Göre, die Autorin spielen wollte, abgehakt. Und trotzdem ist Mädchen für alles dennoch im Gespräch. Wer macht also etwas falsch? Charlotte Roche oder die Leser? Die Wahrheit, die sich hinter Mädchen für alles versteckt, ist kein skandalöses Buch wie es Feuchtgebiete noch war, oder aber ein depressiver Seelen-Strip (wie ihn Roche selber nannte) wie Schoßgebete. Mädchen für alles ist genau das, was es ist: Eine unterhaltsame, sehr schwarze Komödie, die ich, ganz besonders nach Schoßgebete, nicht von Charlotte Roche erwartet hätte. Bis auf wenige Aussetzer, wo die Autorin vermutlich wirklich geistig abwesend war, ist das Buch stilsicher geschrieben, hatte für mich einige Lacher zu bieten und ist extrem kurzweilig. Sollte es je ein Leser schaffen, sich unvoreingenommen an eines ihrer Bücher heranzuwagen, könnte es sogar sein, jener Leser könnte am Ende sogar ein ähnliches Fazit ziehen.

Wer also anspruchsvolle Literatur sucht, ist wie immer bei Charlotte Roche falsch. Wer kurzweilige Unterhaltung lesen will, wird einige Stunden beschäftigt sein. Als Abschluss einer Trilogie eindeutig ein bizarrer Höhepunkt. Damit sollte Roche dann aber auch mal zu einem Ende kommen. Sie schreibt, was man von ihr erwartet, vielleicht ist ihre Leserschaft auch mittlerweile zu abgestumpft nach allem, was sie so aufs Papier gebracht hat. Sollte sie sich noch einmal an einen neuen Roman wagen, hätte ich tatsächlich nicht einmal was dagegen, mal ein gewollt ernstes Buch von ihr zu lesen. In diesem Sinne, Cheers! Muss den Trick mit den Wodka-Melonen unbedingt mal ausprobieren.

Dienstag, 27. Oktober 2015

Rezension: Kopfkissenbuch (Sei Shonagon)

(Foto: Aufziehvogel)






Japan um 1000

Kopfkissenbuch
Autorin: Sei Shōnagon
Originaltitel: Makura-no-Soshi
Veröffentlichung: 12. Oktober 2015 bei Manesse
Neue und ungekürzte Übersetzung: Michael Stein
Genre: Uta Nikki, Klassische Literatur


"Zur kühleren Abendstunde in der allerheißesten Jahreszeit, wenn es so dunkel ist, dass man kaum noch etwas sieht, wirkt der Anblick eines Herrenwagens -  es muss durchaus kein hochherrschaftlicher Wagen mit Vorreitern sein -, in dem ein oder zwei Männer mit hochgerollten hinteren Jalousien einherfahren, erfrischend auch mich. Und wenn dazu noch das Spiel auf einer Biwa oder der Klang einer Querflöte ertönt, bedauere ich es zutiefst, wenn der Wagen vorbei- und weiterfährt. Es ist eine meiner Marotten, dass ich bei solchen Gelegenheiten den Geruch des Zuggeschirrs des Ochsen reizvoll finde, ein strenger Geruch eigentlich, den man eher ungern in Kauf nimmt.
Wenn es ganz dunkel ist und mondlose Finsternis herrscht, gefällt es mir, wenn der Geruch vom Rauch der brennenden Fackeln in den Händen der Vorreiter ins Wageninnere hereinweht."
(Sei Shonagon - Kopfkissenbuch, Manesse Verlag, Übersetzung: Michael Stein)


Vor über 1000 Jahren, wo sich manche Völker noch mit Steinen und Keulen bekriegten, feierte Japan nicht nur einen der ersten Romane überhaupt, sondern auch seinen ersten literarischen Star. Denn noch zu ihren Lebzeiten erfuhr die Hofdame Sei Shonagon, wie populär ihre Niederschriften wurden. Und obwohl es für uns vermutlich unvorstellbar ist, aber sogar an ein ausführliches Nachwort hat die Autorin gedacht. Historiker waren der redefreudigen Hofdame für so reichhaltige Informationen natürlich sehr dankbar. Und dennoch hat Sei Shonagon ein großes Mysterium hinterlassen. Anders als beim Genji Monogatari, welches in seiner Vollständigkeit nicht komplett sicher der Hofdame Murasaki Shikibu zugeordnet werden kann (das Thema ist bis heute unter Historikern und Japanologen sehr kontrovers diskutiert), so kann man sich bei der ehrenwerten Hofdame Sei Shonagon schon ziemlich sicher sein, dass das komplette Werk, ihr Kopfkissenbuch, auch aus ihrer Feder entsprungen ist. Obwohl das Leben der Sei Shonagon und ihrem Hauptwerk so gut datiert ist, fehlen leider, man kann schon sagen, beinahe vollständig Informationen darüber, wo sie ihren Lebensabend verbrachte und wie und wann sie gestorben ist. Es scheint, als hätte sie sich wie ihre Schriftsteller-Kollegin Murasaki Shikibu in Luft aufgelöst. Was die ehemalige Hofdame aber hinterlassen hat, ist ein mehr als beeindruckendes Vermächtnis der Weltliteratur.

Wer beim Kopfkissenbuch eine epische, dramatische Geschichte wie beim Prinzen Genji erwartet, der wird sich wundern. Das Kopfkissenbuch der Sei Shonagon ließt sich nämlich wie ein Tagebuch, welches gefüllt ist mit den alltäglichen Geschehnissen am kaiserlichen Hofe von Kyoto. Genau so wenig darf man aber auch einen steifen, langatmigen Wälzer erwarten. Es ist sogar das komplette Gegenteil der Fall. Die Hofdame Sei Shonagon versteht es nämlich bestens, den Leser zu unterhalten. Mit vielen kleinen Anekdoten aus dem Alltag am Hofe schildert sie eine sehr persönliche Sichtweise über eine Zeit, in die wir uns nur noch schwer hineinversetzen können. Überraschend dabei ist, wie frei, offen und amüsant die Autorin die Geschehnisse schildert. Ob nachdenklich, humorvoll oder auch mal sehr frech, Sei Shonagon hat all ihre Facetten in diesen kleinen Geschichten und Gedichten verewigt.

Eine der wenigen Kontroversen, die über die Jahre im Bezug mit dem Kopfkissenbuch entstanden sind, ist die Frage nach einer chronologischen Reihenfolge der Einträge. Darauf gibt die Autorin nur wenige konkrete Hinweise. In den ersten Einträgen des Kopfkissenbuches wird jedoch klar, dass Autorin den Menschen, die am Hofe dienen, noch neidisch hinterherblickt. Überliefert ist, das die Hofdame Sei Shonagon erst relativ spät in ihrem Leben zu einer echten Hofdame am kaiserlichen Hof wurde. Mit ungefähr 30 Jahren diente sie der schönen wie sanften jungen Kaiserin Sadako, zu der sie schnell ein freundschaftliches Verhältnis aufbaute. Sei Shonagon brauchte nicht lange, um sich am Hofe einzuleben. Dem Leser wird außerdem relativ schnell klar, die Autorin tratscht auch mal gerne und ist des öfteren in Lästerlaune.
Dies gewährt dem Leser einen unglaublich heiteren, aber auch intimen Einblick in eine Welt, die wir uns vermutlich als sehr traditionell, streng und antiquiert vorstellen. Dabei sind die Themen, über die die Autorin schreibt, auch heute noch teilweise erfrischend aktuell. All die kleinen Geschichten sind mit einer Leichtigkeit geschrieben, dass man sich kaum vorstellen kann, man habe es mit einem über 1000 Jahre alten Text zu tun.


"120 Was würdelos aussieht
Ein großes Schiff, das bei Ebbe auf einer Sandbank festsitzt.
Ein großer Baum, der vom Sturm entwurzelt wurde und nun mit dem Wurzelwerk nach oben umgestürzt daliegt.
Ein Mann von niederem Stand, der seine Gefolgsleute anschreit.
Eine Ehefrau, die wegen irgendeiner Belanglosigkeit beleidigt das Haus verlässt, weil sie meint, dass ihr Mann sie verzweifelt suchen werde. Der aber denkt gar nicht daran, sondern nimmt es zu ihrem größten Ärger gelassen, sodass sie schließlich, weil sie nicht immerzu auswärts übernachten kann, von selbst wieder zurückkommt."
(Sei Shonagon - Kopfkissenbuch, Manesse Verlag, Übersetzung: Michael Stein)


Zur vorliegenden Ausgabe

Bereits am 09. Oktober habe ich einen Beitrag verfasst, der sich ausführlich mit der optischen Ansicht der neuen Ausgabe des Kopfkissenbuches befasst: Vorschau - Kopfkissenbuch
In diesem Abschnitt möchte ich mich jedoch diesmal auf den Inhalt konzentrieren. Ich muss aber dennoch einmal anmerken, dass ich nur selten eine für den privaten Gebrauch, bibliophile Ausgabe in den Händen gehalten habe, welche sich so hochwertig anfühlt, wie diese Neuausgabe.

Die große Kritik in den vorherigen Ausgaben des Kopfkissenbuches lag darin, inhaltlich gekürzt zu sein. Selbst die bislang umfangreichste deutsche Übersetzung von Mamoru Watanabe war nicht nur gekürzt, sondern leider auch durch viele andere westliche Handschriften/Übersetzungen des Kopfkissenbuches vom Ton und Verständnis her alles andere als originalgetreu. Man könnte sagen, alle erhältlichen Ausgaben wurden verwestlicht. In der neuen Hardcover-Ausgabe vom Manesse Verlag liefert Michael Stein eine von den japanischen Herausgebern autorisierte, ungekürzte Neuübersetzung ab. In einem ausführlichem Nachwort des Übersetzers, erwähnt Michael Stein wie wichtig es nicht nur war, eine ungekürzte deutschsprachige Ausgabe zu präsentieren, sondern auch eine sprachlich moderne und verständliche Übersetzung abzuliefern, die aber dennoch den Stil von Sei Shonagon beibehält. Die neue Übersetzung ließt sich nicht nur flüssig, es wurden auch zahlreiche interessante Fußnoten zu etlichen Begriffen und Situationen hinzugefügt. Wer sich also durch das Kopfkissenbuch gelesen hat, der sollte auf keinen Fall dort schon das Buch zuklappen, denn was folgt, sind extrem interessante Anhänge, die für mich das Gesamterlebnis einfach abrundeten. Neben dem ausführlichem Kommentar von Übersetzer Michael Stein gibt es zahlreiche Infos zum Leben der Sei Shonagon, einen Glossar und ein Personenregister. Ganz besonders interessiert war ich an dem Abschnitt, in dem die verschiedenen Ausgaben und Handschriften besprochen wurden. Nicht nur äußerlich macht die Neuausgabe was her, auch inhaltlich hat sich diese Ausgabe meine Hochachtung verdient.


Resümee

Man kann mit großer Gewissheit sagen, die beiden Hofdamen Sei Shonagon und Murasaki Shikibu lebten zur gleichen Zeit. Im Tagebuch der Murasaki Shikibu äußert sich die Autorin relativ abschätzig über Sei Shonagon. Genau genommen wirft sie ihr Hochnäsigkeit und Arroganz vor. Zum einen sind die Worte von Murasaki Shikibu nicht ungewöhnlich, da die beiden Damen anscheinend aus rivalisierenden Häusern stammten. Aber auch an sich kann ich mich Murasaki Shikibus Ansicht nicht anschließen.
Es stimmt, Sei Shonagon besaß in ihrem Schreibstil das gewisse Etwas, was sich zuerst ein wenig arrogant liest. Je weiter ich aber im Kopfkissenbuch voran kam, desto mehr lernte ich die freche, manchmal sogar herablassende art zu schätzen. Sei Shonagon war nicht nur eine selbstbewusste Frau, sie war außerdem unglaublich modern, teilte sowohl gleichermaßen an Männern und Frauen aus. Ihren großen Traum, am Hofe zu dienen, hat sie sich erarbeitet und erfüllt. Für die Autorin, so ist es unschwer in den Texten zu erkennen, war dies die schönste Zeit ihres Lebens. Und trotz all der Selbstbewusstheit kam auch häufig ein anderer Charakter der Autorin zum Vorschein: Sie war verträumt, ein wenig naiv was viele ihrer Ansichten anging, und gleichzeitig auch eine einfühlsame Person. Es dürfte wohl kaum charmantere Erzählungen vom Leben am Kaisershof in Kyoto geben, als das Kopfkissenbuch.

Makura no soshi. Der Originaltitel des Kopfkissenbuches. Ein Buch, was selbst die Kleinsten in Japan bereits kennen. In Deutschland dürfte diese Bekanntheit wesentlich zurückhaltender sein. Das dieser Klassiker der Weltliteratur aber nun endlich in seiner ungekürzten Schönheit vorliegt, kann man dem Manesse Verlag wieder einmal hoch anrechnen. Diese Übersetzung war überfällig und wurde von Liebhabern japanischer Literatur seit vielen Jahren gefordert. Diesem Wunsch ist man nachgekommen und hat nicht nur optischen einen Hingucker gelandet, sondern auch inhaltlich eine deutsche Ausgabe abgeliefert, die Sei Shonagons Kopfkissenbuch den gebührenden Respekt zollt.

Und wer wissen möchte, was nun eigentlich ein Kopfkissenbuch eigentlich ist, auch dazu hat die Autorin in ihrem Nachwort noch eine amüsante Anekdote auf Lager.

Dienstag, 13. Oktober 2015

Top 10: Die schlechtesten Sequels



Obwohl es nicht komplett unverdient wäre, im starken Kontrast zu meinem Roger Moore als Clown-Bond Titelbild, er selbst wird keinen Auftritt in dieser Liste haben.
Stattdessen will ich mich bei meiner neusten Top 10 mit, bis auf wenigen Ausnahmen, auf neuere Sequels (Fortsetzungen) fokussieren.

Doch wie sehen die Regeln aus, um einen dieser wenig begehrten Plätze zu bekommen?
Qualifiziert sind praktisch so ziemlich alle Filmreihen. Kein Heiligtum ist sicher. Ein weiteres Kriterium ist, ich muss die Filme gesehen haben und kann nicht einfach, auch wenn ich gerne würde, Transformers mit in diese Liste aufnehmen (3 Anläufe brauchte ich für Teil 1, nicht einmal habe ich es geschafft, bis zum Abspann zu durchzuhalten). Eine weitere Regel: Nur 1 Film pro Franchise.
Zusätzlich ausgenommen von dieser Liste sind alle Horror-Slasher Reihen wie Texas Chainsaw Massacre, Freitag der 13. oder Halloween, bei denen ich unlängst die Übersicht verloren habe. Auch Saw werde ich keinerlei Beachtung schenken, da ich mich nicht für einen einzigen Film entscheiden könnte (betrachtet alles nach Teil 2 in einer eigenen Liga der schlechten Fortsetzungen).

Bevor ihr euch nun auf meine Top 10 stürzt: Falls ihr nach "Der Pate 3", "Speed 2: Cruise Control" oder aber auch "Book of Shadows: Blair Witch 2" sucht, muss ich euch bereits in diesem Absatz enttäuschen, sie sind nämlich nicht dabei :)



Top 10: Die schlechtesten Sequels



10.
Mad Max III - Jenseits der Donnerkuppel
Australien 1985
Regie: George Miller
Darsteller: Mel Gibson, Tina Turner







Wer Mad Max III noch nicht gesehen haben sollte nach all den Jahren, und sich fragt, was sich hinter der Donnerkuppel befindet, dem kann ich zumindest verraten, was sich nicht dahinter befindet: Ein guter Film und ein würdiger Abschluss einer Trilogie. Zugegeben, Mad Max III hat es von allen Vertretern in dieser Liste noch am wenigsten verdient, dabei zu sein. Trotzdem, oder gerade deshalb, ist der Film dabei, weil er so selten bei solchen Aufzählungen zu finden ist.
Das größer Problem von Mad Max III ist nicht einmal der Wechsel zum amerikanischen PG-13 Rating und den Einbußen vieler schnörkelloser Härten, wie man sie aus den beiden Vorgängern kennt. Ein viel größeres Problem ist der lahme Plot und die fehlenden Höhepunkte. So ganz werde ich es nicht nachvollziehen können, was sich George Miller da gedacht hat. Weder ein guter Mel Gibson, noch eine sehr gute Tina Turner konnten das Ruder rumreißen. Was am Ende bleibt, ist ein mehr als brauchbarer Titelsong und der Gedanke daran, rund 30 Jahre später hat George Miller seinen Fehler wieder ausgebügelt.


9.
The Hangover Part III
USA 2013
Regie: Todd Philipps
Darsteller: Bradley Cooper, Ed Helms, Zach Galifianakis 







Beinahe hätte es Mel Gibson zum zweiten mal in diese Liste geschafft (gut, dass er sein Engagement in Hangover Part III absagte und Filme wie Machete Kills und Expandables 3 nur knapp vorbeigerauscht sind ).
Während ich Part II der Hangover Trilogie noch recht amüsant fand und auch der Meinung war, da gab es noch einige recht gute, niveaulose Gags, so war die Luft bei Part III dann aber komplett raus. Ein Hangover Film ohne Hangover, dafür aber mit umso mehr Alan und Mr. Chow. Die zwei Publikumslieblinge aus den beiden Vorgängern wurden nun endgültig zur den nervenden Ulknudeln, die mit lahmen und völlig überzogenen Gags Hangover Part III zu einer wahren Geduldsprobe machten. Es sind durchaus Bemühungen zu sehen, dass Regisseur Todd Philipps alles zu einem runden Ende verpacken wollte, allerdings steht dem Film dabei das hanebüchene Script und die eigenen Charaktere im Wege. Hangover Part III ist ein überflüssiges Sequel, ein überflüssiger Abschluss einer Trilogie und letztendlich auch ein überflüssiger Film.



8.
Toy Story 3
USA 2010
Regie: Lee Unkrich
Sprecher: Tom Hanks, Tim Allen, Joan Cusack






Toy Story 3 ist bestimmt der Film, den man am wenigsten erwartet, wenn man sich eine Liste zu den schlechtesten Sequels anschaut. Und doch ergatterte sich der Animationsfilm von Pixar Platz 8. Die Gründe hierzu kann ich einfach erklären. Toy Story hatte weder einen zweiten Teil nötig und schon gar keinen dritten. Toy Story hatte 1995 als einer der ersten 3D animierten Zeichentrickfilme Geschichte geschrieben. Die Story war interessant für Jung und Alt (danke, Joss Whedon) und selbst die Technik kann sich auch heute noch sehen lassen. Bereits bei Teil 2 hatte man sich irgendwie verirrt und es war den Machern nicht gelungen, eine originelle Story abzuliefern. Trotzdem kann auch Toy Story 2 noch anständig unterhalten, wenn auch längst nicht mehr so einzigartig charmant wie sein Vorgänger. Toy Story 3 setzt mit der Ideenlosigkeit fort, setzt aber auch noch einmal einen drauf in Sachen erzwungene Dramatik und einem völlig ausgelutschtem "Wir alle werden einmal erwachsen" Plot. In der deutschen Synchronfassung kann man dann auch noch einmal die Keule schwingen, wie man bloß einen so untalentierten Sprecher wie Michael "Bully" Herbig engagieren konnte, der in Toy Story 3 den bereits damals gesundheitlich gezeichneten Peer Augustinski beerbte und die Rolle des Woody übernahm. Toy Story 3 ist in vielen Belangen überflüssig. Mittlerweile wurde für das Jahr 2017 eine weitere Fortsetzung angekündigt. Für Pixar vielleicht die große Gelegenheit, mit dem Ruhm vergangener Tage dieses Franchise abzuschließen und etwas völlig neues zu präsentieren.


7.
Star Wars Episode II: Angriff der Klonkrieger
USA 2002
Reige: George Lucas
Darsteller: Ewan McGregor, Hayden Christensen, Natalie Portman






Laut Star Wars Maestro George Lucas sind die Filme Episode I-III seine ultimative Vision von Star Wars. Eine kontroverse Aussage. Wenn man Lucas glaubt, befindet sich in den Filmen alles, was er damals nicht hätte umsetzen können. Das ist ja schon ein ganz schönes Brett, genau wie der Fakt, Episode II ist komplett digital entstanden. Die Darsteller werden also bis auf grüne oder blaue Hintergründe in einem Studio nichts gesehen haben, was nur annähernd einem echten Set gleichkommen würde. So sieht die Vision von George Lucas aus. Das Problem nur, was Ende der 90er mit Episode I noch passabel aussah, sieht 2015 aus wie ein billiges Computerspiel. Episode I-III sind technisch fürchterlich schlecht gealtert. Das gleiche gilt aber auch für den Inhalt, dieser wurde wiederum aber auch schon zu Zeiten der jeweiligen Veröffentlichung der Filme stark kritisiert. Mit oder ohne Nostalgie-Brille zu der Original-Trilogie, Episode II ist noch einmal schlechter und planloser geschrieben als sein Vorgänger. Dazu kommt dann auch noch einmal eine riesige Portion Schmalz, der sich mit einer ekelhaft kitschigen Lovestory vermischt. Das Gesamtergebnis dieser brandgefährlichen Mischung ist für sich gesehen ein lahmer Science-Fiction Film mit einigen Star Wars Elementen. Denn bei all den Widersprüchen, die Lucas selbst in sein eigenes Script eingebaut hat, muss man sich als Filmfan wirklich fragen, ob nicht sogar ein Klon des großen Zampano für diesen Film verantwortlich war.


6.
Scream 3
USA 2000
Regie: Wes Craven
Darsteller: Neve Campbell, David Arquette, Courteney Cox Arquette







Der erst kürzlich verstorbene Horror-Altmeister Wes Craven hat sich mit Scream 2 und Scream 3 keinen großen Gefallen getan. Während Teil 1 das Slasher-Genre noch einmal revolutionierte und einen beeindruckenden Spagat zwischen Horror, Comedy und Hommage hinlegte, waren beide Fortsetzungen nur noch zwei kleine Abziehbilder des Originals. Während Teil 2 noch halbwegs unterhaltsam den Vorgänger kopierte und die Story um Sidney Prescott hätte abschließen können, driftete Teil 3 mit einer nahezu absurden Geschichte und fragwürdigen Darstellern (Patrick Dempsey als inkompetenter Detective vom LAPD mit einbezogen) ab in dem Sumpf der Fortsetzungen, die besser nie realisiert worden wären. Die Opfer im Film sind austauschbar und waren nichts weiter als nötiges Kanonenfutter. Ein Aspekt, über den man hinweg sehen könnte wenn Scream 3 sich nicht auf so unlustige weise selbst veralbern würde. Ein Film, den man getrost überspringen kann und problemlos nach Teil 2 mit Scream 4 fortfahren kann. In Wes Cravens letztem großen Kinofilm besinnte er sich noch einmal auf die Stärken, die das Original ausmachten (auch wenn Scream 1 konkurrenzlos bleibt).


5.
Terminator 3 - Rebellion der Maschinen
USA 2004
Regie: Jonathan Mostow
Darsteller: Arnold Schwarzenegger, Nick Stahl, Claire Danes







Während Terminator - Die Erlösung schon ausführliche Aufmerksamkeit von mir erhalten hat, hätte ich es ungerecht gefunden, Terminator 3 - Rebellion der Maschinen, einfach ungeschoren davonkommen zu lassen. Einen Platz hätten sie beide hier verdient, aber da nur eine schlechte Fortsetzung pro Franchise erlaubt ist, geht der Platz an Terminator 3. Als 2004 die lang ersehnte Fortsetzung erschien, war die Ernüchterung riesig. Wenig überzeugende Darsteller (selbst Arnie konnte nur gering überzeugen und allen voran Claire Dankes in der wohl überflüssigsten weiblichen Hauptrolle, die ich vermutlich je bestaunen durfte), eine schwache Fortführung der Story und völlig überflüssiger Humor (fast schon Slapstick) sorgten dafür, dass die Verantwortlichen für diesen Film sich selbst von diesem Machwerk, was unter der Regie von Jonathan Mostow entstanden ist, distanzieren. Vermutlich wäre selbst unter der Regie von James Cameron kein Film entstanden, der den beiden Vorgängern hätte gefährlich werden können, aber zumindest hätte man vermutlich einen würdevollen Abschluss einer Trilogie erwarten können. Und da soll noch mal jemand sagen, Terminator Genisys hätte nicht viel richtig gemacht.



4.
Battle Royale II: Requiem
Japan 2003
Regie: Kenta Fukasaku, Kinji Fukasaku
Darsteller: Tatsuya Fujiwara, Ai Maeda, Riki Tekeuchi






Battle Royale II: Requiem ist eine Fortsetzung, um die weder jemand gebeten hat, noch die jemals hätten entstehen dürfen. Ohne Frage, Battle Royale von Kinji Fukasaku gehört mitunter zu den vermutlich bedeutendsten Filmen, die nach der Jahrtausendwende entstanden sind. Kinji Kukasaku benutzte für die Verfilmung zwar die Romanvorlage von Koushun Takami, kreierte aber dennoch etwas völlig eigenständiges aus dem Material. Eine Fortsetzung, die es gar nicht gebraucht hätte, plante der gestandene japanische Filmemacher aber dennoch. Allerdings kam alles ein wenig unerwartet, denn noch während der Dreharbeiten zu Battle Royale II verstarb Kinji Fukasaku 2003 an Prostatakrebs und konnte nur eine einzige Szene abdrehen. Die schwere Bürde, den Film zu übernehmen, übernahm sein Sohn Kenta, der bereits das Screenplay zu Teil 1 schrieb.
Wie viel Kinji Fukasaku in Battle Royale II: Requiem steckt, werden wir wohl nicht mehr erfahren. In allem, wofür das grandiose Original stand, will die Fortsetzung einen draufsetzen, scheitert dabei aber in so ziemlich allen Belangen. Stattdessen zieht man die wunderbar abgeschlossene Geschichte des ersten Teils gleich mit ins Verderben, da Battle Royale II eine direkte Fortsetzung ist. Und auch diesen Survival Horror Aspekt, der ein wenig an "Der Herr der Fliegen" erinnert, wurde durch ein sinnloses Splatterfest ersetzt. Darstellerisch gibt es mit dem kleinen Auftritt von Takeshi Kitano nur einen der wenigen Lichtblicke, sein Ersatz, Riki Takeuchi, überschätzte stattdessen seine schauspielerischen Fähigkeiten erheblich. Egal, wie viel man über Battle Royale II: Requiem, noch schreibt, an dieser Fortsetzung kann man nichts schönreden und das einzige, was uns bleibt, ist, dieses Machwerk für immer zu vergessen. Kinji Fukasaku hat sich unlängst ein Denkmal in der japanischen Filmwelt gesetzt und kann auf diese Fortsetzung, die ihm gewidmet ist, getrost verzichten.



3.
Exorzist II: Der Ketzer
USA 1977
Regie: John Boorman
Darsteller: Linda Blair, Louise Fletcher, Richard Burton




Exorzist II: Der Ketzer ist eine weitere Fortsetzung, die genau so wenig wie Battle Royale II je hätten entstehen dürfen. Aber natürlich wollte man mit einem der kontroversesten Horrorfilme seiner Zeit noch ein paar Dollar abkassieren. Entstanden ist nicht eine der schlechtesten Fortsetzungen der Filmgeschichte, sondern eindeutig auch einer der schlechtesten Filme der Filmgeschichte. Bereits das Desaster bei der Produktion ist ein Indiz dafür, bei dem Dreh zu diesem Film lief einfach nichts rund. Entstanden ist ein billiges Filmchen, was verzweifelt versucht, eine Geschichte aufzubauen, die nach dem Vorgänger spielen könnte. Genau wie beim Terminator Franchise wandten sich die Verantwortlichen schnell von sämtlichen Fortsetzungen ab (in diesem Falle William Peter Blatty und William Friedkin, die sich anschließend noch nach der Premiere über diese Fortsetzung öffentlich lustig machten). Geplant war von vornherein ein Low Budget Werk, welches durch die chaotische Produktion sogar noch einmal federn lassen musste. Für Hauptdarstellerin Linda Blair war der Film bereits das Ende ihrer turbulenten Karriere. Kritiker vaporisierten den Film förmlich und die Einzelteile davon landeten in den Kinokassen, in deren Leere sich die Qualität dieser Fortsetzung wiederspiegelte. Zwar bekleckerten sich auch die weiteren Exorzist Fortsetzungen nicht mehr mit Ruhm, keine sollte aber auch nur ansatzweise an dem Niveau von Exorzist II ansiedeln.


2.
Stirb langsam - Ein guter Tag zum sterben
USA 2013
Regie: John Moore
Darsteller: Bruce Willis, Jai Courtney, Sebastian Koch






Die letzten beiden Filme waren Fortsetzungen, die es nicht hätte geben dürfen. Mit Stirb Langsam haben wir es mit einer kompletten Reihe zu tun, die es unlängst nicht mehr geben dürfte.
Bereits John McClanes PG-13 Abenteuer, Stirb langsam 4.0 (oder "Live Free or Die Hard), war ein semi gescheiterter Versuch, das "Die Hard Universum" ins neue Jahrtausend zu befördern. Und dennoch hatte Len "Blaufilter" Wiseman eine art Konzept, so viel konnte man ihm nicht absprechen.
Überraschenderweise war Stirb langsam 4.0 ein Erfolg, an den Kinokassen (trotz PG-13 Rating reichte es nur für Platz 2 beim Box Office, stellte aber doch sämtliche Startrekorde des Franchise ein) und teilweise auch bei den Fans. Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Unumstritten dürfte dafür jedoch die Qualität beim fünften Ableger der Reihe handeln. Stirb langsam - Ein guter Tag zum sterben dürfte nämlich der absolute Tiefpunkt dieser einst glorreichen 80er Action sein. Zwar besinnte sich 20th Century Fox dem Film sein R-Rating zurückzugeben, dies hält den Film aber nicht davon ab, eine absolute Gurke zu sein. Angefangen beim tristen, langweiligen Schauplatz rund um das graue Moskau, bis hin zur Inszenierung. Aber was soll man auch von einem Regisseur erwarten, auf dessen Konto das furchtbare Omen Remake und die nicht minder genau so schlechte Max Payne Verfilmung geht? Wer immer dafür verantwortlich war, einen so unbegabten Filmemacher wie John Moore zu engagieren, muss entweder heimlich im Sinn gehabt haben, das Franchise zu sabotieren oder aber war völlig betrunken. Vielleicht auch beides. Das Endergebnis ist der bereits angedeutete Gurkensalat.
Ach ja, diese McClanes, reiten sich in jedem Film in Schwierigkeiten. Welches verlorene Familienmitglied wird Bruce Willis ikonischer Charakter im nächsten Film wiederfinden? Seinen lange tot geglaubten Bruder, der sich als Ex-Stasi entpuppt und in Deutschland die DDR wieder aufleben lassen will? Das wäre bestimmt ein Job für Paul Anderson.



 1.
The Ring 2 Two
USA 2005
Regie: Hideo Nakata
Darsteller: Naomi Watts, Simon Baker, David Dorfman





Mit The Ring fing alles an. Eine neue art von Horrorfilm. Was in Japan praktisch schon ein alter Hut war, wurde im Westen gerade erst neu entdeckt. Verantwortlich für das erste Remake eines populären japanischen Horrorfilms (unzählige sollten folgen bis das Genre irgendwann so trocken und staubig war wie die Wüste Gobi) war Gore Verbinski. Gelungen ist ihm zusammen mit Dreamworks ein kühler, düsterer Mystery-Horrorfilm, wie man ihn seit Jahren nicht mehr im Kino zu sehen bekam. Dabei kopierte Verbinski das Original aus Japan beinahe 1:1 (die Romanvorlage zum japanischen Film lieferte Koji Suzuki). Die Philosophie (und auch das Budget) war jedoch eine andere und beide Werke können überraschend gut nebeneinander koexistieren. So schnell wie die neuen Horrorfilme um unheimliche kleine Mädchen mit langen dunklen Haaren populär wurden, so schnell gerieten sie eigentlich auch wieder in Vergessenheit.
Aber sicherlich war 2005 noch nicht die Zeit dafür.

Rund 3 Jahre nach dem US-Remake wollte es Dreamworks noch einmal wissen. Da Gore Verbinski alle Hände voll mit "Fluch der Karibik" hatte, war dieser nicht mehr für eine Ring-Fortsetzung verfügbar. Also ließ man einfach den Mann aus Japan einfliegen, der das Original gedreht hat. Eine passendere Besetzung für den Stuhl des Regisseurs kann es da wohl kaum geben. Hideo Nakata hatte sich nicht nur mit Ring einen Namen gemacht. Mit Ring 2 hatte er in Japan auch eine überraschend solide Fortsetzung zustande gebracht und mit Dark Water, einer weiteren Adaption einer Geschichte des japanischen Bestsellerautors Koji Suzuki, seinen nächsten Hit landete (bitte nicht verwechseln mit dem gleichnamigen, mäßigen, amerikanischen Remake zu Dark Water aus dem Jahr 2005).
Und letztendlich landete Hideo Nakata, bei seinem US-Debüt, mit The Ring Two eine Fortsetzung zu einem gelungenem Remake, welche sich nicht einmal vor "Exorzist II: Der Ketzer" verstecken muss.
Belanglos, nichtssagend und ohne Spannung agieren die Darsteller unter Hideo Nakatas eintöniger Regie und Ehren Krugers ideenloser Geschichte. Ja, und dann ist da auch noch dieser verdammte Junge. Dieser verdammte, altkluge Junge der nun noch eine viel größere Rolle hat als bereits im Vorgänger.
Woran sich die Leute später erinnern werden, wenn sie den Titel "The Ring Two" vernehmen werden, ist, Simon Bakers schiefe Fratze nachdem er vermutlich das Drehbuch las, eine Szene mit der Benutzung von unglaublich schlechtem CGI und dem verdammt guten Kurzfilm "Rings" von Jonathan Liebesman, der von Dreamworks einzig und alleine dafür in Auftrag gegeben wurde, The Ring Two zu promoten.

Es sollte sich herausstellen, Hideo Nakata bekam nach The Ring Two kaum noch ein nennenswertes Projekt zustande (weder im Westen, noch in seiner Heimat). The Ring Two ist auch ein weiterer Beweis dafür, wie gefährlich mal wieder eine direkte Fortsetzung werden kann. Man muss sich nur diese Liste anschauen, und bemerkt alleine an Filmen wie Battle Royale II oder aber auch Exorzist II, direkte Fortsetzungen zu eigentlich abgeschlossenen Handlungen haben es nie einfach.
Das man aber ein so sicheres Ding wie The Ring II aber dennoch so dermaßen in den Sand setzen kann, dazu gehört auch ein gewisses Können.

Freitag, 9. Oktober 2015

Vorschau: Kopfkissenbuch (Sei Shonagon)



Am 12. Oktober bringt der Manesse Verlag seine, sehr wahrscheinlich, letzte Veröffentlichung eines japanischen Klassikers für das Jahr 2015. Dafür plante der Verlag noch einmal etwas großes, und gleichzeitig haben wir es auch mit einer Premiere zu tun. Denn erstmals wird das Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shonagon ungekürzt bei uns erscheinen. Es gab in der Vergangenheit mehrere Versuche, uns den Klassiker zugänglich zu machen. Manesse selbst hat den Titel sogar schon einmal veröffentlicht, nämlich in ihrer Reihe "Bibliothek der Weltliteratur" in einer Übersetzung von Mamoru Watanabe. Leider fehlten in bisher allen Veröffentlichungen wichtige Teile von Sei Shonagons Erzählungen. Teilweise wurden diese aufgrund der kulturellen Aspekte gekürzt. Für einen Liebhaber klassischer japanischer Literatur ist dies natürlich nicht zu rechtfertigen.




In der neuen aufwendigen Hardcover-Ausgabe (Feinleinenband auf Satinpapier), die optisch, schaut man genau hin, sogar an ein Kopfkissen angelehnt ist, finden wir eine Neuübersetzung von Michael Stein der hier nicht nur eine sehr lesbare, sondern aber auch ziemlich interessante Übersetzung angefertigt hat. Ohne unübersichtlich in den Haupttext verarbeitet zu werden befinden sich auf vielen Seiten häufig kleinere Absätze des Übersetzers, die stets interessante Hintergrundinformationen bieten. Abgerundet wird all jenes mit einem ausführlichem Nachwort des Übersetzers.




Doch welcher Inhalt befindet sich in einem Buch, mit einem solch ungewöhnlichem Titel? Wie sicher bereits viele angenommen haben, geht es, trotz des eindeutigen Titels, nicht um Kopfkissen oder antike Schlafgewohnheiten. Eine ausführliche Besprechung/Rezension des Kopfkissenbuches wird es aber demnächst hier auf "Am Meer ist es wärmer" geben.

Einen kurzen Überblick will ich euch aber dennoch verschaffen. Wenn man von japanischen Hofdamen spricht, fallen meistens zwei Namen, die weltbekannt sind. Zum einen wäre das Murasaki Shikibu, die mit ihrer "Genji Monogatari" den vermutlich ersten Roman und die erste Coming of Age Geschichte der Weltliteratur verfasst hat. Und dann gibts es da Sei Shonagon, die mit ihrem Kopfkissenbuch das Leben am Hofe schildert. Im Gegensatz zu ihrer Hofdame-Kollegin Murasaki Shikibu tut sie dies jedoch auf ihre ganz eigene Art und ihrem ganz eigenem Stil. So ist das Kopfkissenbuch viel mehr ein Zeitzeugenbericht aus der Zeit am Hofe. Mit vielen kleinen Geschichten, Gedichten und anderen Anekdoten berichtet Sei Shonagon von ihren Tagen als Hofdame. Mal humorvoll, mal poetisch, mal aber auch erotisch. Natürlich muss das Wort "Erotik" hier verhalten gewählt werden. Aber für damalige Verhältnisse war die Verfasserin überraschend freizügig.

Mehr zu dieser wundervollen Ausgabe wird es in den nächsten Tagen geben.


Japanische Klassiker auf "Am Meer ist es wärmer".

Die Geschichte vom Prinzen Genji

Japanische Jahreszeiten

Tagebuch eines alten Narren

Donnerstag, 8. Oktober 2015

Nobelpreis für Literatur 2015 geht an Svetlana Alexievich



Die Entscheidung in Schweden ist wieder einmal gefallen.
Die 67 Jahre alte Weißrussin Svetlana Alexandrovna Alexievich (eine gebürtige Ukrainerin) wurde mit dem Nobelpreis für Literatur 2015 ausgezeichnet.

Wie immer gab es von dem Gremium auch eine Begründung für diese Entscheidung, die ich unverfälscht in englischer Sprache belasse: "For her polyphonic writings, a monument to suffering and courage in our time".

Die einstiege Journalistin ist keine klassische Autorin in Belletristik. Ihre Werke und Prosa über die russische Vergangenheit (ein Kernpunkt ihrer Werke ist der Kalte Krieg) können der Sachbuch-Literatur zugeordnet werden. Svetlana Alexievich genießt unter den Fachleuten dieser Thematik ein hohes ansehen.

Der Aufziehvogel gratuliert und sendet Grüße nach Weißrussland.

Damit geht der Preis erstmals an Weißrussland.

Dienstag, 6. Oktober 2015

Rezension: Girl on the Train (Paula Hawkins)






Großbritannien 2015

Girl on the Train
Autorin: Paula Hawkins
Originaltitel: The Girl on the Train
Veröffentlichung: 2015 bei Blanvalet
Übersetzung: Christoph Göhler
Genre: Drama, Psychologischer Thriller


"Ungefähr auf der Hälfte der Fahrt ist wieder irgendein Signal defekt. Zumindest nehme ich an, dass es defekt ist, weil es praktisch immer auf Rot steht. Fast jeden Tag halten wir dort an, manchmal nur für ein paar Sekunden, manchmal für endlose Minuten. Wenn ich in Wagen D sitze, so wie meistens, und der Zug vor dem Signal anhält, so wie fast immer, habe ich den perfekten Ausblick auf mein Lieblingshaus an den Gleisen: Nummer fünfzehn."



Jeder, der schon einmal mit dem Zug gefahren ist oder sogar jeden Tag mit dem Zug zur Arbeit pendelt, kennt dieses Gefühl. Man fährt an belebten Straßen, Bahnübergängen und natürlich Wohnhäusern vorbei, die an den Gleisen liegen. Man fragt sich, was für Autos diese Straßen täglich befahren, was für Geschichten an den Bahnübergängen erzählt werden und was für Menschen in den schönen Einfamilienhäusern mit zurecht gemachten Gärten leben.

Genauso geht es auch Rachel. Sie pendelt jeden Tag mit dem Zug von Zuhause zu ihrer Arbeitsstelle in London. So erzählt sie es zumindest ihrer Mitbewohnerin, ihrer Mutter und ihrem Exfreund Tom. In Wirklichkeit steht Rachels Leben aber, seitdem sie mit ihrem langjährigen Freund Tom schluss gemacht, hat auf dem Kopf.

Lange lebte Rachel zusammen mit ihrem Freund in dem schönen Haus an den Gleisen, an welchem sie nun jeden Tag vorbei fährt. Jedoch ist nun nicht mehr sie diejenige, die im Garten sitzt und ein Leben wie aus dem Bilderbuch führt, sondern die neue Frau von Tom, zuammen mit dem gemeinsamen Kind. Ein Kind war auch größtenteils der Grund, warum ihre Beziehung in die Brüche ging. Seitdem kommt Rachel nicht mehr vom Alkohol weg. Jeden Tag trinkt sie mindestens 2 Flaschen Wein oder 4 Dosen Gin Tonic aus dem Supermarkt gleich neben ihrer neuen Wohnung, wo sie aus der Herzensgüte ihrer Freundin Cathy heraus ein Zimmer bewohnen darf. Ihre Trinkerei hat Rachel bereits ihren Job gekostet, aber aus Stolz, oder auch Angst, fährt sie immer noch jeden Tag nach London und verbringt dort den Tag um niemandem von ihrer Schmach berichten zu müssen. Auf dieser täglichen Fahrt nach London entdeckt sie eines Tages ein Paar im Garten, ganz in der Nähe ihres alten Hauses. Die beiden stellen für sie das perfekte Paar dar. Sie ist groß, blond, schlank und sehr hübsch. Er ist ebenfalls ein attraktiver Mann, groß, dunkelhaarig und muskulös. Das perfekte Vorstadtehepaar also. Rachel beobachtet die beiden täglich aus ihrem Zug heraus und denkt sich Geschichten aus, wie ihr Leben wohl verlaufen mag.

Doch eines Tages verschwindet Megan, die attraktive Blondine plötzlich und Rachel fühlt sich verpflichtet bei der Suche zu helfen. Sie glaubt zu wissen, wie es Megan geht und hofft der Polizei bei der Suche helfen zu können.

So beginnt ein packender Thriller, bei dem man einfach mitfiebern muss. Nicht nur aus der Sicht von Rachel erzählt, bekommt man auch Einblicke in die Welt von Megan, dem Opfer und sogar von Anna, der neuen Frau an Tom's Seite.

Paula Hawkins wuchs in Simbabwe auf. Seit 1989 lebt sich jedoch in London und kennt sicher die vielen Züge, die täglich von und nach London fahren. Hawkins arbeitete lange als Journalistin, bevor sie mit "Girl on the Train" ihren ersten Thriller verfasste. Ein Thriller, der es, nach meiner Meinung, wirklich in sich hat. Er ist schwer aus der Hand zu legen, vor allem wenn man selbst häufig Zug fährt und sich genau denken kann was Rachel empfindet, während sie die Leute draußen beobachtet. Hawkins schafft es, dass man zugleich Sympathie und Antipathie für die Protagonistin empfindet. Das Buch schafft es sowieso oft zwiegespaltene Gefühle für die Charaktere hervorzurufen. Auf der einen Seite tut einem Rachel leid, was sie alles durchleben musste, was jetzt noch, im Laufe des Buches, auf sie zukommt. Aber auf der anderen Seite, kommt man nicht umher sie für ihre Taten selbst verantwortlich zu machen und sich zu denken: "Eigentlich ist sie an allem selbst Schuld". Es erinnert sehr an das echte Leben.

Girl on the Train wird in einer klaren Sprache erzählt, die man leicht verstehen kann und welche einem das Gefühl gibt selbst mitten in der Story zu sein. Die Protagonistin ist gut auscharakterisiert und durchlebt eine positive Entwicklung von der abgewrackten Junggesellin zu ihrer alten Pracht, als starke junge Frau zurück.

Ebenso können auch die anderen Charaktere im Buch überzeugen und sind sorgfältig beschrieben. Was mich ein wenig irritierte waren die doch an manchen Stellen anzufindenden sehr kurzen Kapitel. Dort war ich an ein Tagebucheintrag erinnert, dann aber auch wieder an einen ganz normalen Roman. Da es aber weder den Lesefluss, noch das Erzählen stört, ist es wohl einer eine "kosmetische" Angelegenheit.

Sich in das Verschwinden einer komplett unbekannten Person einzumischen kommt einem auf den ersten Blick sicher merkwürdig vor. Aber wenn man über Rachel's Beweggründe nachdenkt, ist es schon beinahe logisch, dass sie nicht nur in der Aussenseiter Rolle den Fall betrachten kann, sondern energisch versucht einzugreifen und den Menschen, die sie glaubt so gut zu kennen, zu helfen.



Resümee

Mir hat "Girl on the Train" sehr gut gefallen. Die ausgereiften Charaktere und das wirklich gut geschriebene Erstlingswerk von Paula Hawkins konnten mich für viele Stunden fesseln, und das nicht nur, weil ich selbst häufig Zug fahre und Rachels Gedanken sehr gut nachvollziehen kann. Wer gerne spannende Thriller aus der Sicht einer verwirrten, aber doch liebenswerten jungen, starken Frau liest, ist hier genau an der richtigen Stelle.

Gespannt warte ich auch schon auf die Verfilmung, denn DreamWorks hat sich direkt nach Erscheinen die Filmrechte zu "Girl on the Train" gesichert.



Eine Rezension verfasst von Ann-Sophie Gräwe für "Am Meer ist es wärmer".


Samstag, 3. Oktober 2015

Rezension: 89/90 (Peter Richter)

(Foto: Aufziehvogel)






Deutschland 2015

89/90
Autor: Peter Richter
Veröffentlichung: 09.03.2015 bei Luchterhand
Genre: [Fingierter] Zeitzeugenbericht, Slice of Lfe, Tragikomödie



"Auf der Straße roch es nach Gärten, die einen Tag voller Sonne hinter sich hatten, es war zwar erst Ende April, aber schon so warm, wie manchmal im Juli nicht, und auf den Serpentinen zur Grundstraße hinunter, wo S. schon stand und eine rauchte, eine Alte Juwel, die er mit dem Daumen und dem Zeigefinger hielt und mit dem Mittelfinger wegschnipsen würde, bevor er mir auf die Schultern haute, da wusste ich: Wenn jetzt das Leben enden müsste, dann von mir aus; besser konnte es gar nicht mehr werden.
Wir würden sechszehn werden in diesem Sommer, erst S. und dann ich, und dann wäre der Spaß vorbei, da waren wir uns sicher. Dann entfiele der Kitzel, glaubten wir, die Furcht, einem Lada der Volkspolizei vor die Scheinwerfer zu geraten, wenn wir mit Wein und Whisky und Wermut aus dem Keller vom Vater auf dem Weg waren zu irgendwelchen Mädchen, in deren Zimmer wir einstiegen, weil die auch noch nicht schlafen wollten. Denn wir waren viel zu jung zum Schlafen damals, wir kamen gar nicht dazu, jedenfalls nicht in den Nächten. Dafür drückte uns dann tagsüber die Müdigkeit den Kopf auf die Schulbank." 
- 89/90, Peter Richter, Luchterhand


Es kommt nicht häufig vor, dass ich das Titel-Zitat für meine Besprechung bereits auf Seite 1 finde.
Das Buch, welches, hört man den Titel zum ersten mal, eher an eine Konfektionsgröße oder ein Preisschild denken muss. Die Bedeutung des Titels von Peter Richters Roman, einem gebürtigem Dresdner, ist aber wesentlich tiefsinniger und doch so simpel zu erklären. Mit 89/90 sind zwei entscheidende Jahre in der deutschen Geschichte gemeint, der Mauerfall und die Wiedervereinigung. Am heutigem Tage, den 03. Oktober 2015, jährt sich das Ereignis bereits zum 25. mal. Und theoretisch müsste man meinen, es gibt so viele noch immer junge Zeitzeugen, Dokumentationen, Filme und Musik über diese entscheidenden Jahre, da müsste doch mittlerweile jeder über den Fall der DDR bescheid wissen. Zurecht habe ich jedoch nicht die Literatur in meine Aufzählung mit einbezogen. Ich will nicht bestreiten, dass es keine Literatur über die letzten Jahre der DDR gibt, genau so bin ich mir sicher, es gibt umso mehr bierernste Zeitzeugenberichte aus diesen Jahren, aber gibt es auch ein vergleichbares Werk wie 89/90? 89/90 ist nicht die Geschichte von den großen Namen, die mit dem Mauerfall in Verbindung gebracht werden. Es ist auch kein langwieriger historischer Roman der noch einmal die alten Geschichten aufwärmt. Stattdessen ist 89/90 die Geschichte eines fünfzehnjährigen Teenagers, der diese Ereignisse aus seiner Sichtweise noch einmal erzählt. Und Peter Richter, der es mit seinem Roman auf die Longlist des diesjährigen deutschen Buchpreises geschafft hat, tut dies auf eine charmante weise, wie man sie in der Literatur vermutlich all die Jahre vermisst hat, was diese Thematik angeht.

Autobiografisches scheint 89/90 nicht zu sein, zumindest nicht komplett. Das Alter des namenlosen Protagonisten deckt sich zwar mit dem des Autors (Peter Richter war 1988 genau fünfzehn Jahre alt), und dennoch wird man viele Inhalte in dem Buch auch mit einem Augenzwinkern sehen müssen. Da ich zur damaligen Zeit aber selber erst zwischen 2-3 Jahre alt war, werde ich gar nicht damit anfangen, irgendetwas anzuzweifeln.
Aufgeteilt ist der Roman in zwei Parts. Part 1 kümmert sich um das Jahr 89, Part 2 logischerweise um das Jahr 90. Erzählt wird die Geschichte von einem namenlosen Ich-Erzähler. Und namenlos ist bereits ein gutes Stichwort, denn in bester Franz Kafka Manier bekommt jeder wichtige Charakter, der in der Geschichte vorkommt, lediglich einen Buchstaben als Name spendiert.
Aufgebaut ist 89/90 als klassischer Zeitzeugenbericht inklusive Fußnoten des Ich-Erzählers. Dieser macht bereits auf den ersten Seiten klar, zukunftsorientiert waren die Gedanken von ihm und seiner Clique nicht. Man lebte für das Jetzt, für den Moment. Man ahnte zwar etwas, aber im Augenblick waren nächtliche (illegale) Besuche im Freibad wichtiger, Musik war wichtiger, und, am allerwichtigsten, und es gab nichts, was mehr Priorität verdient hatte, waren Mädchen. Da ist sich der Erzähler gemeinsam mit seinem besten Kumpel S. sehr schnell einig. Eines Abends, als mal wieder Nacktbaden im nächtlichen Freibad ansteht, lernt der Protagonist die gleichaltrige L. kennen, die überzeugte Kommunistin ist und vor hat, sobald sie das 18. Lebensjahr gefeiert hat, in die SED eintreten will. In diesem Sommer beginnt für die Clique eine Zeit des Umbruchs, und Peter Richters Protagonist erzählt in seiner Chronik, wie die Wende ein ostdeutscher Teenager erlebt hat.

"Hätte man damals schon sagen können, wer dort eines Tages wem einen Baseballschläger über den Kopf hauen würde? Hätte man damals schon herumgehen könne und sagen: Du, mein Freund, wirst mal den Drogen zum Opfer fallen, und du da wirst sie ihm verkaufen; du daneben wirst mit Immobilien viel Geld verdienen, du hier wirst vorher für ihn auf den Strich gehen, du dort drüben wirst in München eine Karriere machen, während der dahinten in zwanzig Jahren Mülltonnen nach Pfandflaschen durchsucht - und du, kleiner D., wirst bald gar nicht mehr unter uns sein?
Noch wussten wir nicht, wie alles kommen und was alles verschwinden würde. Noch galten bewaldete Achseln als begehrenswert, Noch wusste keiner, wie schnell sich selbst das ändern würde." - 89/90, Peter Richter, Luchterhand

89/90 haftet ein großes Stück Mono no aware an. Die Vergänglichkeit der Dinge. Das Ende der Jugendjahre, das Ende von Freundschaften, Angst vor einer ungewissen Zukunft (auch wenn man diese ständig abstreitet), Angst, dass die Mädchen aus der Nachbarschaft ihren ersten Sex mit Wessis haben werden. Das Ende einer Ära steht bevor, und während der Protagonist und S. mit dem nostalgischen M. durch ostdeutsche Lande spazieren, die mindestens genau so nostalgisch sind wie dieser ältere Herr selbst, ist den Jugendlichen dieses Ende dieser unbesorgten Zeit bewusst. Auf sehr unterhaltsame, aber auch nachdenkliche weise erzählt Peter Richter die Schicksale dieser Teenager.


Resümee

Um an 89/90 Gefallen zu finden, wird nicht einmal Vorausgesetzt, in dieser Zeit geboren zu sein oder sie Live miterlebt zu haben. Grundvoraussetzung ist, einmal 15 oder 16 Jahre alt gewesen zu sein. Denn diese Figuren, die man in Peter Richters Buch findet, mit denen haben wir es bestimmt selbst schon einmal zu tun gehabt. Oder, noch besser, bestimmt finden wir uns in einen von ihnen wieder. Auf eine sehr sympathische und kurzweilige art werden wir an zwei entscheidende Jahre erinnert, die uns auch in den kommenden Jahrzehnten weiter begleiten werden. Ohne in Selbstmitleid oder Patriotismus zu versinken, werden wir auf eine kleine Zeitreise mitgenommen, die endlich auch mal auf literarischer Ebene zündet. 
89/90 ist ein Titel, der einen Platz auf der Shortlist des deutschen Buchpreises 2015 mehr als verdient gehabt hätte.




Jukebox: The Smiths - Last Night I dreamt that somebody loved me



In Gedenken an Hellmuth Karasek (1934-2015)

(Helmuth Karasek verstarb im Alter von 81 Jahren am 29. September 2015)


Als ich vor (mittlerweile bereits) rund 3 Tagen von dem Tod von Hellmuth Karasek erfuhr, betrübte mich das sehr. Der Literaturkritiker war einer jener Haudegen, der vermutlich ewig leben würden, würde es keinen Spielverderber geben, der sich im Himmel ein neues literarisches Quartett aufbauen will. Somit folgt ein weiteres Mitglied des bekanntes literarischen Quartetts dem 2012 verstorbenen Marcel Reich-Ranicki.

Hellmuth Karasek lediglich als Literaturkritiker zu bezeichnen wäre natürlich eine bodenlose Untertreibung. Ich habe mich aber entschieden, diesen Begriff zu verwenden, weil ich ihn so kennen und schätzen lernte. Wie für vermutlich viele deutsche Haruki Murakami Leser, wird Hellmuth Karasek sich alleine durch die legendäre Sendung des literarischen Quartetts aus dem Jahr 2000 unsterblich gemacht haben.

Deutschland hat einen weiteren großen Denker verloren. Machen sie es gut, Herr Karasek.