Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Donnerstag, 30. Juli 2015

Zum 50. Todestag von Jun'ichiro Tanizaki: Tagebuch eines alten Narren




Hinweis: In dieser Besprechung verwende ich die gebräuchlichere Schreibweise "Junichiro Tanizaki" ohne Apostroph im Vorname.



Japan 1961/1962

Tagebuch eines alten Narren
Autor: Junichiro Tanizaki
Originaltitel: Fūten Rōjin Nikki
Veröffentlichung: 1962 in Japan bei Chuokoron-Shinsha, 13. Juli 2015 als überarbeitete Neuauflage beim Manesse Verlag
Übersetzung und Fußnoten: Oscar Benl
Nachwort: Eduard Klopfenstein
Genre: Erotik-Drama


"Vielleicht liebe ich Satsuko deswegen, weil sie mir bis zu einem gewissen Grade zu dieser Illusion verhilft. Sie ist ein bisschen boshaft, ziemlich ironisch und lügt auch ganz gern. Mit ihrer Schwiegermutter und den Schwägerinnen versteht sie sich schlecht. Auch ihr Kind scheint sie nicht besonders zu lieben. In der ersten Zeit nach ihrer Heirat zeigte sich das nicht so deutlich, aber in den letzten zwei, drei Jahren dafür umso mehr. Mir macht es manchmal geradezu Spaß, sie noch mehr gegen die Frauen des Hauses aufzustacheln. Sie hat eigentlich keinen üblen Charakter. Sie ist im Grunde gutartig, aber unversehens überwältigt sie die Lust am Bösen, und dann brüstet sie sich geradezu damit. Ob sie es tut, weil sie merkt, dass mir das gefällt? Aus irgendeinem Grund behandle ich sie liebevoller als meine Töchter, und ich sähe es nicht einmal gern, wenn sie sich besser mit ihnen verstünde. Je gehässiger sie zu ihnen ist, desto reizvoller erscheint sie mir." - Tagebuch eines alten Narren. Übersetzung: Oscar Benl


Heute jährt sich bereits der 50. Todestag von Junichiro Tanizaki (24. Juli 1886 - 30. Juli 1965), ein Schriftsteller, der einen großen Beitrag an die noch immer junge, moderne japanische Literatur geleistet hat. Tanizakis Einfluss auf die Weltliteratur ist unbestritten, dabei ist er aber weniger bekannt als Romancier, als viel mehr der Autor zahlreicher Essays und Novellen.

Das "Tagebuch eines alten Narren" war Tanizakis letztes großes Werk. Rund 3 Jahre später, kurz nach seinem 79 Geburtstag, verstarb er im hohen Alter an Herzversagen.
Das Tagebuch dieses lüsternen alten Mannes, den Tanizaki hier so brillant beschreibt, war praktisch sein Abschiedsgeschenk an die Weltliteratur. Der original japanische Titel des Romans ist dabei noch etwas markanter als der, der deutschen Ausgabe. 瘋癲老人日記 (Fūten Rōjin Nikki) heißt übersetzt so viel wie "Tagebuch eines verrückten alten Mannes". Ich finde die Benutzung des Wortes "Narren" hier aber angebrachter. Denn Protagonist Utsugi Tokusuke agiert dermaßen naiv und besessen, der Titel des Narren steht ihm viel besser als der des Verrückten.

Tanizakis Roman gehört zum in Japan prominenten Genre des Nikki Bungaku (Tagebuch-Romanen). Hier muss aber noch angemerkt werden, Tanizakis Geschichte basiert komplett auf Fiktion (auch wenn vielleicht leichte autobiografische Elemente nicht abgestritten werden können). Erzählt wird praktisch die Geschichte von der Schönen und dem Biest außerhalb der Märchenwelt. Der Familienpatriarch Utsugi Tokusuke beherbergt eine große Familie. Finanziell hat er vor langer Zeit ausgesorgt und durch seinen Sohn Jokichi ist bereits für eine verlässliches Erbe gesorgt. Mit siebenundsiebzig Jahren möchte Tokusuke eigentlich nur noch seine verbleibende Zeit genießen. Die Gesundheit will dies aber nicht so ganz zulassen. Vor einiger Zeit erlitt er einen leichten Schlaganfall, von dem er sich nun erholt. Sein Spiegelbild erblickt der alte Mann nur noch mit Sarkasmus. Seine Zähne sind ihm unlängst ausgefallen, seine Haut ist verschrumpelt und faltig und man kann nur noch schwerlich sein Gesicht darunter erkennen. Auch die Impotenz machte letztendlich vor ihm nicht halt. Die Lust an schönen Frauen hat Tokusuke aber noch lange nicht verloren. Im Gegenteil. Er ist seiner Schwigertochter Satsuko regelrecht verfallen. Immer tiefer verstrickt sich der alte Mann in erotische Fantasien und frisst seiner gerissenen Schwiegertochter aus der Hand. Doch Tokusuke ist noch nicht so senil, um nicht zu bemerken, wie die Frau ihn benutzt. Doch darin liegt seine Passion, Tokusuke genießt es, benutzt zu werden. In seinem Tagebuch beschreibt er aufrichtig, wie er Satsuko, die Ehefrau seines Sones, verehrt und er sie jederzeit seiner eigenen Familie vorziehen würde.

In (auf den ersten Blick) simplen Tagebucheinträgen vermag es Tanizaki, eine anspruchsvolle Geschichte zu erzählen, die einen nicht selten mit einer hängenden Kinnlade zurücklässt. Immer neue Geständnisse des alten Mannes kommen ans Licht. Bewundernswert dabei ist, wie authentisch Tanizaki die beiden Protagonisten Tokusuke und Satsuko beschreibt (seht zu dieser Authentizität trägt auch Oscar Benls Übersetzung bei, da er typisch japanische Begriffe und Anreden wie Ojiisan und Obaasan komplett unangetastet gelassen hat). Jeder Tagebucheintrag nimmt verstricktere Züge an und der Leser muss sich fragen, ob der alte Mann ein armseliger Lustmolch ist oder man ihm seine seltsamen Neigungen durchgehen lassen soll. Doch schützt das Alter wirklich vor dem Narrentum? Vermutlich nicht. Dabei ist sich Tokusuke bewusst,  ausgenutzt zu werden. Es lässt all dies zu, sein Stolz kommt ihm dabei irgendwann völlig abhanden. Ist eine schöne, geheimnisvolle Frau es wert, sein komplettes Vermächtnis als Mensch aufs Spiel zu setzen? Erneut stellt Junichiro Tanizaki wichtige Fragen und lässt seine Leser mit vielen Fragen zurück.

Gerne wird das Tagebuch eines alten Narren als erotischer Roman beworben. Allerdings darf man sich hier kein Ausmaß vorstellen, wie es bei aktuellen Genrevertretern der Fall ist. Dafür hat Tanizaki zu viel Stil, verpackt seine Worte beinahe dabei in geschmeidige Seite. Jedes Wort ist genau überlegt und durchdacht. Der erotische Aspekt dieses Romans geschieht auf eine wesentlich anspruchsvollere weise. Wer also tatsächlich wilde erotische Abenteuer in den Tagebucheinträgen dieses alten Mannes erwartet, wird vermutlich enttäuscht werden. Der erotische Aspekt, von dem ich gerade sprach, ist ganz alleine Satsuko die mit ihren eigenen Waffen den Männern ihre Gedanken regelrecht vernebelt.

Zur deutschen Ausgabe:

Erneut hat sich der Manesse Verlag einem japanischen Klassiker angenommen. Seit ihrer hochwertigen Neuauflage zum Prinzen Genji und des großen Haiku und Tanka Sammelbandes Japanische Jahreszeiten freue ich mich auf sämtliche Ankündigungen des Verlages.
In der vollständig durchgesehenen Neuauflage des "Tagebuch eines alten Narren" setzt man wie bei der Geschichte um den Prinzen Genji erneut auf eine Übersetzung des Japanologen Oscar Benl (1914-1986). Wieder einmal wird eine sehr moderne, sprachlich starke Übersetzung präsentiert die den Klassiker flüssig und verständlich lesbar präsentiert. Dazu gibt es zahlreiche Fußnoten zu japanischen Begriffen im Anhang und ein ausführliches Nachwort von Eduard Klopfenstein.

Die Hardcover-Ausgabe ist mit einem Schutzumschlag versehen (sehr passendes, modernes Design). Die eigentliche Seele dieser Ausgabe befindet sich aber unter dem Schutzumschlag. Genau wie die Geschichte des Prinzen Genji, ist das Buch in Leinen gebunden. Somit fügt sich diese Ausgabe bestens zur Sammlung hinzu, sollte man bereits die Neuauflage für den Prinzen Genji besitzen.
Präsentiert wird wieder einmal eine vorbildliche Ausgabe für bibliophile Sammler (ganz besonders für Liebhaber der japanischen Literatur).


(Foto: Aufziehvogel)


Resümee

Das "Tagebuch eines alten Narren" ist eine ungewöhnliche Geschichte über das Altern. Die privaten Geständnisse eines greisen Patriarch einer wohlhabenden japanischen Familie ist ein Roman, wie er typisch japanischer nicht sein kann. Alle Elemente, die die japanische Literatur so besonders macht, bringt Junichiro Tanizaki in den Tagebucheinträgen unter. Teilweise mit Staunen wird der Leser diese Tagebucheinträge verschlingen, auch wenn ich davon abraten kann. Die Tagebucheinträge dieses alten Narren lesen sich am besten, wenn man sie sich für mehrere gemütliche Abende aufhebt. Am besten man genießt sie wie einen teuren Whiskey. Nicht alles auf einmal, sonst ärgert man sich, wie schnell die Flasche leer war.

In einer schönen bibliophilen Ausgabe hat der Manesse Verlag dem japanischen Schriftsteller einen schönen Tribut zu seinem 50. Todestag gezollt. Ein Roman, der in einer gut sortierten Sammlung japanischer Literatur nicht fehlen sollte.

2 Kommentare:

  1. Hallo :)

    Habe auch gerade das Rezensionsexemplar zu diesem Buch vom Bloggerportal bestätigt bekommen und warte jetzt darauf, dass es eintrudelt. Eine sehr ausführliche, sehr schöne Rezension hast du dazu geschrieben, wie ich finde, eindrucksvoll auch mit Hintergründen zum Autor usw. ausgeschmückt. Sie macht mir richtig Lust darauf, das Buch zu lesen.

    Liebe Grüße
    Ivy

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  2. Hallo Ivy! Vielen Dank für die lieben Worte, so etwas lese ich doch gerne.

    Ich denke, du wirst diese Entscheidung nicht bereuen :)
    Bitte halt mich doch auf dem laufenden, wie du die Zeit mit dem Lüstling verbracht hast ;D
    Wobei, ich denke du wirst bestimmt ebenfalls eine Besprechung verfassen.

    Liebe Grüße aus Dortmund,
    Aufziehvogel

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