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Montag, 20. Januar 2014

Rezension: Der Kaiser von China (Tilman Rammstedt)






Deutschland 2008

Der Kaiser von China
Autor: Tilman Rammstedt
Erscheinungsjahr: 2008 DuMont Verlag (Hardcover), 2010* Rowohlt Verlag (Taschenbuch)
Genre: Satire, Tragikomödie


"Doch natürlich kam nur der Regionalexpress, ich stieg ein, und was dann vorbeizog, war lediglich der Westerwald, den kannte ich schon von den Postkarten meines Großvaters. Und hier hatte er doch wohl nicht bleiben wollen, das konnte doch wohl nicht sein Plan gewesen sein, und er musste doch einen Plan gehabt haben, der dann unerwartet durchkreuzt worden war, er musste doch ein Ziel gehabt haben, das dann nie erreicht wurde, denn das Einzige, was mich noch trauriger machte als die Tatsache, dass er sein Vorhaben, wie auch immer es genau aussah, nicht zu Ende hatte führen können, war die Möglichkeit, dass er es vielleicht doch zu Ende geführt hatte, dass womöglich nichts leichter gewesen war, als es zu Ende zu führen, weil es gar keinen richtigen Plan gegeben hatte, weil es ihm zum Schluss schlichtweg gleichgültig geworden war, wie ihm so vieles, fast alles irgendwann gleichgültig geworden war, aber wenn er sich schon so dramatisch auf eine letzte Reise begeben hatte, als wäre er doch kein Hamster, sondern ein Elefant, wenn er schon seine Spuren zu verwischen versucht hatte, wenn er schon unbedingt verschollen sein wollte, dann hätte er sich doch wenigstens ein klein bisschen weiter entfernen können, denn im Westerwald verscholl es sich nun einmal schlecht."
(Der Kaiser von China, Tilman Rammstedt, DuMont Buchverlag)


Es passiert recht selten, dass ich nach gelesener Lektüre den imaginären Hut ziehe und mich verneige. Chapéu, Herr Rammstedt, wirklich brillant. Ungefähr das waren die Worte, die mir nach der letzten Seite durch den Kopf gingen. Und noch lange danach ließen mich die letzten Worte, die in dieser ungewöhnlichen Geschichte verewigt sind, nicht los.

Der Kaiser von China machte zur Veröffentlichung im Jahre 2008 auf sich aufmerksam als er sowohl den Haupt- als auch den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Preis abgeräumt hat. Kürzlich jedoch machte Tilman Rammstedts Roman aber noch einmal auf sich aufmerksam. Unter dem Titel The King of China veröffentliche der US-Verlag Seagull Books im Dezember 2013 ein englische Übersetzung des Romans (in einer Übersetzung von Katy Derbyshire). Für den 39 jährigen Autor vermutlich ein Anreiz, noch einmal eine solch kuriose, witzige, traurige, melancholische und rührende Geschichte zu schreiben.

Die Geschichte ist bereits beinahe komplett auf der Rückseite des Covers zusammengefasst. Im Mittelpunkt der Geschichte steht der Mittzwanziger Keith Stapperpfennig, der seinen Geschwistern erklären muss, wieso er Großvaters größten Wunsch, nämlich nach China zu reisen, nicht erfüllen konnte. Die Wahrheit wäre, Keith hat das Geld, was die Familie für die Reise zusammengespart hat, mit Großvaters junger Freundin Franziska im Kasino verjubelt, hatte danach vermutlich nicht einmal mehr Geld für die Straßenbahn und sollte sich somit schleunigst vor Scham unter seinem Tisch in Gartenhaus verkriechen, welches er seit kurzem bewohnt. Und genau das tut er dann auch. Von Großvater keine Spur (der sich wie ein kleines Kind auf Weihnachten auf diese Reise gefreut hat), verkriecht sich Keith im Gartenhaus, verbarrikadiert sich, löscht alle Lichter und verkriecht sich unter einen Tisch, damit ihn auch ja keiner sehen kann. Denn eigentlich ist Keith ja mit seinem Großvater in China. Eines Tages trudelt eine sehr improvisierte Postkarte ein. Sein Großvater schreibt. Aus China. Die kaum leserliche Schrift ist schwer zu entziffern. Aber eines kann Keith ganz genau lesen. "Du hättest mitkommen sollen". So die vorwurfsvollen Worte seines Großvaters. Die Postkarte wurde mehrmals überklebt und das eigentliche Motiv wurde durch ein Panorama von China ersetzt. Abgestempelt wurde die Karte in Deutschland und stammt aus dem Westerwald, nicht einmal eine Stunde von der Heimatstadt entfernt. Kurze Zeit später klingelt das Telefon, ein Anruf aus dem Krankenhaus. Es gibt ein weiteres Problem. Großvater Stapperpfennig wurde tot aufgefunden, und Keith muss sich nun ganz schnell auf den Weg machen, seinen verstorbenen Großvater zu identifizieren. Ist es für Keith jetzt schon schwer genug, sich aus dieser komplizierten Geschichte herauszureden, macht er es sich etwas einfacher. Wenn er schon als der Schwarze Peter abgestempelt werden wird, wieso nicht einfach eine Geschichte über eine Reise nach China erfinden, die nie stattgefunden hat? So kann man zumindest die fragende Verwandschaft ein wenig beschwichtigen.

Wer glaubt, der Inhalt der Geschichte würde den ganzen Spaß vorwegnehmen, irrt sich gewaltig. Das war von Autor Tilman Rammstedt genau so gewollt. Um die eigentliche Handlung wird kein großes Geheimnis gemacht. Es kommt eigentlich nur noch auf das "Wie" und "Warum" an. Der Kaiser von China ist eine Moderne Lügengeschichte. Beinahe schon ein Lügenmärchen. So phantasievoll schreibt Tilman Rammstedt. Der Spaß, den er mit dieser Geschichte hatte, ist ihm auf jeder Seiten anzumerken. Der Roman beginnt praktisch als klassische Satire, allerdings endet er als Tragikomödie. Ohne jemals in Kitsch oder Gefühlsduselei zu verfallen, nimmt Der Kaiser von China gegen Ende rührende Ausmaße an. Viel wichtiger: Man kann dem sympathischen Träumer Keith einfach nicht böse sein. Keith ist der Lügner in dieser Geschichte, und ein guter Lügner ist immer nur grandios, wenn er seine Märchen irgendwann selbst glaubt.

Die beiden Protagonisten sind hauptsächlich Keith und sein Großvater. Schon zu Anfang der Geschichte wird schnell klar, Keith Stapperpfennig führte ein weniger aufregendes Leben bisher. Seine Eltern lernte er nie wirklich kennen und wanderte schnell in die Obhut seines Großvaters. Ein Mann, genau so ein Träumer wie Keith selbst, ein schwieriger, komplizierter Mann.
In der Vergangenheit wurde ihm ein Arm amputiert, der Stumpf ist mittlerweile zu seinem Markenzeichen geworden. Und, obwohl er kein wohlhabender Mann ist, scheint er ein Casanova für die Frauen zu sein. Jener Großvater (dessen Vorname nur ein einziges mal im Buch erwähnt wird) war ein typischer "Morgen" Mensch. Immer schob er wichtige Dinge auf, schnell verlor er das Interesse an einer Sache. Viele junge Großmütter kamen und gingen. Die Misere für Keith begann praktisch schon bei der Namensgebung. Franziska, Großvaters aktuelle Freundin, bemitleidet den Twen sogar um jene weniger durchdachte Namensgebung. Mit mehreren Geschwistern aufgewachsen, erlebte die Familie so jeden Tick dieses spleenigen Großvaters mit. Der Großvater, der nie Deutschland für eine längere Reise verlassen hat, und nun unbedingt nach China möchte. Wieso nicht Österreich oder der Bodensee, denkt sich Keith, wieso ausgerechnet China? Und da Keith ja auch Großvaters Liebling ist, wird ihm die Ehre zu teil, alleine mit dem alten Herrn nach China zu reisen.

Der Kern der Geschichte wird dem Leser schnell klar. Hinter der fröhlichen Fassade des Romans steckt ein ernstes Innenleben. Der Kaiser von China ist die Geschichte über einen jungen Mann, der, obwohl er über 20 Jahre lang unter seinem Großvater aufgewachsen ist, eigentlich kaum etwas über diese Person, dieses doch so wichtige Mitglied der Familie weiß. Mit den fingierten Briefen in die Heimat hat er sich aber einen Großvater erschaffen, der ihn einmal nicht enttäuscht. Im Gegenteil. Sie bestreiten gemeinsam eine abenteuerliche Reise durch ein fernes, fremdes Land, komplett auf sich allein gestellt. Man könnte meinen, Keith schreibt ein Happy End für eine Geschichte, die sich nun schon seit über 20 Jahren von selbst schreibt. Doch wie in jeder Geschichte, gibt es auch unerwartete Wendungen. Wie aber kann man solch eine Geschichte noch halbwegs ruhmreich beenden? Nun, vermutlich gar nicht, denn je tiefer sich Keith in seinen Lügengeschichten verliert, umso mehr verliert er auch den Bezug zur Realität.

Tilman Rammstedts Schreibstil ist, obwohl seine Sätze sehr ausschweifend sind, leicht zu lesen. Die Dialoge sind frech und erheiternd geschrieben. Natürlich darf man sich als Leser nicht fragen, wann Keith überhaupt Zeit hatte, solch ausführlich, perfekt beschriebene Briefe über nie stattgefundene Erlebnisse in China zu verfassen (Ein Hinweis zur Erklärung dafür befindet sich auf der letzten Seite des Buches). Man muss die Geschichte auch mit einem Augenzwinkern betrachten. Der Autor verkauft seine Geschichte nicht einmal für als ernst oder realistisch. Der Kaiser von China soll einfach nur unterhalten. Und genau das macht er richtig gut. Erzählt wird die Geschichte in zwei Perspektiven. Keith Lügengeschichten, den fingierten Briefen die allesamt in China spielen, und die Erlebnisse in der Gegenwart. Es hat mir eine riesige Freude bereitet, weiter in die Lügengeschichten von Keith einzutauchen. Oft habe ich mich auch dabei ertappt, ob ich nicht ähnlich wie er selbst gehandelt hätte. Nicht ein einziges mal verirrt sich Tilman Rammstedt in seinem selbst geschaffenen China, und auch, wenn die Auflösung der Ereignisse am Ende vermutlich nicht für alle zufriedenstellend sein wird, so kann ihm das eigentlich keiner so wirklich krumm nehmen bei so einem erfrischend sympathischen Schreibstil.


Resümee

Der Kaiser von China ist die Geschichte über zwei Stadtmenschen. Tilman Rammstedt verknüpft Themen wie Familienleben, Einsamkeit und Reisen so gekonnt, wie ein Bäcker jeden Morgen seine Brötchen backt. Oft wird man sich im Roman erwischen, wie man lacht, obwohl man besser nicht lachen sollte. Oft verliert man sich in Keith Lügengeschichten so sehr, dass man denkt, man lese tatsächliche von Erlebnissen, die sich gerade in dem Roman abgespielt haben, oder wünscht sich so sehr, dass all diese Ereignisse wirklich passiert sind. Man wünscht sich für diese Geschichte einfach ein Happy End. Aber das einem auch dies nicht vergönnt wird, verrät ebenfalls bereits die Inhaltsangabe auf dem Backcover. Ja, es stimmt, vielleicht ist die Inhaltsangabe ja doch wirklich schon eine kleine Zusammenfassung des Romans. Natürlich kann man diese Inhaltsangabe auch ignorieren. Aber ich finde, nur wenn man jenen Text ließt, funktioniert Der Kaiser von China einfach noch viel besser.

Wie auch immer man es angehen mag, gelesen werden sollte dieser Roman. Tilman Rammstedt hat eine interessante Geschichte zu erzählen, und ich finde, auch einige Jahre nach der Veröffentlichung, hat sie es verdient, gelesen zu werden. Und das macht letztendlich doch gute Literatur aus.
Tilman Rammstedt beweist uns, erfundene Erzählungen sind meistens interessanter als das eigene Leben. Doch egal wie weit man dem weißen Kaninchen auf folgt, die Realität kennt immer noch eine bessere Abkürzung, um einen schnell wieder in die Wirklichkeit zu führen.



* Das genaue Datum der Veröffentlichung des Taschenbuchs ist mir bei diesem Titel nicht bekannt.

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