Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Montag, 24. Juni 2013

George R.R. Martin: Planetenwanderer endlich in Deutschland erhältlich



Endlich mal, und das kann ich entspannt schreiben, steht ein mehr als talentierter Autor im Rampenlicht. A Song of Ice and Fire machte George R.R. Martin nicht nur zum Multimillionär, auch seine Reputation dürfte hochgeschossen sein wie eine Rakete, die ins All abgefeuert wurde.

Natürlich könnte man nun meinen, wenn man irgendeinen alten Kram des Autors übersetzt, und fett genug seinen Namen auf das Cover setzt, wird es sich bereits automatisch gut verkaufen. Vielleicht ist da etwas wahres dran, aber von mir aus darf gerne jedes Werk des Amerikaners auf Deutsch erscheinen. Im Gegensatz zu vielen anderen, momentan angesagten Autoren aus dem Fantasy/Science Fiction Genre, weiß Martin, wie man eine gute Geschichte zu erzählen hat.



Planetenwanderer wurde in den späten Achtzigern als Kurzgeschichten-Anthologie unter dem Titel Tuf Voyaging veröffentlicht. Die 7 Kurzgeschichten handeln alle von dem skurrilen Weltraumhändler Haviland Tuf. Das Setting der Kurzgeschichten ist zwar astreine Science-Fiction, der Charakter des Haviland Tuf ist aber ein typisches George R.R. Martin Original. Das komplette Gegenteil eines Helden. Der besitzt weder Laserschwerter noch die Macht, sondern ist ein übergewichtiger Vegetarier, der mit Weltraumhandel sein Geld verdient, und eher unfreiwillig in diese Space Opera gerät.

Von Westeros geht es also in die Weiten des Weltalls. Das macht einen guten Erzähler aus.
Planetenwanderer ist seit dem 10. Juni in Deutschland beim Heyne Verlag erhältlich. Optisch richtet sich die Klappenbroschur mit einem Modernen Cover an die aktuelle Neuauflage von Das Lied von Eis und Feuer. Auf dem etwas angestaubten Science-Fiction Markt dürfte Haviland Tuf zumindest etwas Staub aufwühlen.

Donnerstag, 20. Juni 2013

James Gandolfini: Eine True Romance mit dem Filmgeschäft. Tony Soprano stirbt im Alter von 51 Jahren



Wenn James Gandolfini sich irgendwo vorgestellt hat, oder einen Anruf beantwortet hat, fiel es ihm glaube ich schwer, ob er tatsächlich noch seinen echten Name kannte, oder ob er mit "Tony Soprano" antwortete. Die meisten dürften ihn als cholerischen aber dennoch charismatischen Familienvater aus der HBO Serie The Sopranos kennen. Sein Gewerbe: Müllentsorgung. Als Mafiaboss Tony Soprano hat sich James Gandolfini praktisch unsterblich gemacht. Dieser Ruhm wird auch noch weit über seinen viel zu frühen Tod hinausgehen.

Als ich die Meldung am heutigen Morgen gelesen habe, war ich mehr als schockiert. Im Alter von nur 51 Jahren erlag James Gandolfini einem Herzinfarkt in Italien. Fans und TV-Sender HBO sind gleichermaßen entsetzt.

Ich hatte James Gandolfini lange vor den Sopranos schon in etlichen Produktionen gesehen (Perdita Durango, 8mm). Das erste mal, als mich dieser ziemlich eigenwillige Schauspieler begeisterte, war in Tony Scott und Quentin Tarantinos True Romance. Seine Rolle, die er verkörperte, war dabei gar nicht mal so anders, als die des Tony Soprano.
Erst als die Sopranos schon beinahe abgeschlossen waren, kam ich auf die Idee, sein persönliches Meisterstück zu schauen. Zuletzt habe ich James Gandolfini in Zero Dark Thirty gesehen (und das erst vor einigen Tagen). Das schlimme daran ist eigentlich, ich musste tatsächlich Online nachschauen, mich vergewissern, ob es sich wirklich um James Gandolfini handelt, und mein Gedächtnis mir keinen Streich spielt. Es war nicht mehr viel übrig von Tony Soprano. Konnte nicht fassen, dass es sich hier um die gleiche Person handelte.

Der Schauspieler, der seinen Durchbruch als Broadwaydarsteller machte, war mit dem Filmgeschäft verheiratet. Es war seine ganz große Liebe. Eine True Romance. Mit ihm verlässt ein weiterer großer Charakterdarsteller die Bühne von Hollywood. Mein Beileid geht an die Familie und Freunde von James Gandolfini.

Verabschieden möchte ich James, für mich ganz persönlich, mit einem fantastischen Song aus Quentin Tarantinos Musikkeller.


James Joseph Gandolfini Jr. (18 September 1961 - 19 Juni 2013)

True Romance Soundtrack: Charles & Eddie - Wounded Bird

Samstag, 8. Juni 2013

Rezension: Südlich der Grenze, westlich der Sonne (Haruki Murakami)




Die Murakami Rezensionen 5

Japan 1992

Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Autor: Haruki Murakami
Originaltitel: Kokkyō no minami, taiyō no nishi
Alternativ: Gefährliche Geliebte
Erscheinungsjahr: 1992 (Japan), 2000 auf Deutsch beim DuMont Buchverlag
Übersetzung: Ursula Gräfe
Genre: Coming of Age, Mystery

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Anmerkung des Verfassers: Ich werde in dieser Rezension ausschließlich auf die Neuübersetzung "Südlich der Grenze, westlich der Sonne" eingehen. Ganz einfach weil die Übersetzung von Ursula Gräfe nicht nur passender ist, sie bringt auch die wahre Intention dieser wundervollen Geschichte zum Vorschein. In dieser Rezension werde ich keinen Textvergleich zwischen "Südlich der Grenze, westlich der Sonne" und "Gefährliche Geliebte" aufstellen, dafür aber gegen Ende der Rezension auf dieses Thema noch einmal eingehen. Danke für eure Aufmerksamkeit.
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Diese Rezension enthält leichte Spoiler. Der Absatz mit der Markierung * sollte von Personen, die den Roman noch nicht gelesen haben, vermieden werden.

Shimamoto sah kurz auf ihre Hände. >>Weißt du, manchmal stelle ich mir vor, wie es sein wird, wenn ich erwachsen bin und verheiratet. In was für einem Haus ich leben und was ich tun werde. Auch wie viele Kinder ich haben werde.<<
>>Wirklich?<< , sagte ich.
>>Denkst du nie an so was?<<
Ich schüttele den Kopf. Zwölfjährige Jungen denken über so etwas nicht nach. >>Und wie viele Kinder willst du?<<
Sie nahm die Hand von der Sofalehne und legte sie auf ihr Knie. Unverwandt beobachtete ich, wie sie mit dem Finger langsam das Karomuster auf ihrem Rock nachzeichnete. Es lag etwas Geheimnisvolles darin. Von ihrer Fingerspitze schien ein unsichtbarer, feiner Faden auszugehen, aus dem sich eine neue Zeit entspann. Als ich die Augen schloss, tauchten die Wirbel in der Dunkelheit auf. Tauchten auf und verschwanden wieder, lautlos. Aus weiter Ferne hörte ich Nat King Cole >>South of the Border<< singen. Natürlich handelte das Lied von Mexiko, aber das wusste ich damals nicht. Für mich klangen die Worte >>südlich der Grenze<< lockend und unergründlich. Sooft ich das Lied hörte, fragte ich mich, was sich wohl südlich der Grenze befinden mochte. Shimamoto fuhr noch immer mit dem Finger über ihren Rock. Ich spürte einen leisen, süßen Schmerz in mir.
>>Es ist seltsam<<, sagte sie. >>Ich kann mir nur vorstellen, dass ich "ein" Kind habe. Ich bin Mutter und habe ein Kind. Aber dass dieses Kind Geschwister hat, kann ich mir nicht vorstellen. Weder Brüder noch Schwestern. Es ist ein Einzelkind.<<



Haruki Murakami schreibt über das alltägliche Leben eines gewöhnlichen Jungen der Mittelklasse. Wenn wir die ersten Zeilen von Südlich der Grenze, westlich der Sonne, lesen, dann macht der Leser automatisch eine Zeitreise. Wenn die gegenseitigen Hänseleien ein Ende finden, und Junge und Mädchen sich allmählich näher kommen, beginnt der Ernst des Lebens, könnte man es ein wenig übertrieben ausdrücken. Bei dem einen passiert das erst nach der Pubertät, manch anderer verliebt sich bereits in der Grundschule zum ersten mal. Heimlich verliebt war bestimmt jeder schon einmal in seiner Schulzeit. Dieses leidige Gefühl ist noch viel unerträglicher, wenn man mit der angebeteten Person auch noch gut befreundet ist und diese auch noch ein(e) Seelenverwandte(r) ist. Die düstere Realität sieht meistens so aus, dass man mit diesem Mädchen (aus der Sicht einer männlichen Person) niemals zusammenkommen wird. Meistens trennen sich die Wege nach der Schulzeit bereits. >>Und wen heiratet man dann später, Herr Aufziehvogel?<<, erklingt gerade die imaginäre Stimme eines naiven Grundschülers. Nun, die Frage ist schwer zu beantworten. Doch wie der Protagonist aus Murakamis Roman, ist die Frau fürs Leben meistens das komplette Gegenteil von der ersten großen Liebe. Aber, in Südlich der Grenze, westlich der Sonne, da geht es natürlich nicht nur ums Erwachsenwerden. Es ist viel mehr eine Geschichte über Einsamkeiten und Sehnsüchte. Über Realität und Traum. Ich wage mich mal an eine kompakte Inhaltsangabe.

Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht von Ich-Erzähler Hajime. Mit Ende dreißig resümiert er noch einmal über sein bisheriges Leben und fängt im wahrsten Sinne des Wortes ganz am Anfang seiner Geschichte, nämlich bei der Geburt, an. Schnell wird klar, dass Hajime sich immer unbehaglich als Einzelkind und den damit verbundenen Klischees fühlte. In der Schule war er praktisch eine Rarität. In der fünften Klasse jedoch stieß ein Neuankömmling der Klasse hinzu. Shimamoto. Ein ruhiges und abgeklärtes Mädchen mit einer leichten Gehbehinderung. Da die beiden in der gleichen Nachbarschaft wohnen, trägt Hajimes Lehrer ihm auf, sich etwas um das Mädchen zu kümmern. Schnell freunden sich die beiden an, und Hajime erfährt, dass auch Shimamoto Einzelkind ist. Die beiden teilen die gleichen Interessen und lieben Bücher und Musik. Hajime bemerkt, Shimamoto ist seine Seelenverwandte. Und, obwohl er seine Gefühle noch nicht ganz zuordnen kann, verliebt er sich in sie. Die wesentlich reifere Shimamoto scheint nicht anders zu denken. Und dennoch, so berichtet Hajime, kamen sie sich nie näher. Shimamoto schien unerreichbar für ihn zu sein. Und, nachdem er mit seinen Eltern in eine andere Nachbarschaft zog, trennten sich die Wege der beiden Schüler. Fast dreißig Jahre später, Hajime ist längst verheiratet und hat Kinder, ist erfolgreich und führt ein anständiges Leben, denkt er immer noch an das hinkende Mädchen von damals. Bis eines Tages Shimamoto in Hajimes Jazzbar auftaucht. Und hier beginnt die Geschichte von Südlich der Grenze, westlich der Sonne. Es liegt nun ganz alleine an Hajime, herauszufinden ob seine Shimamoto Realität ist, oder ein Geist der Vergangenheit.

Was mir zuerst aufgefallen ist, Südlich der Grenze, westlich der Sonne steht im völligen Kontrast zu meinem letzten rezensierten Roman Trauminsel von Keizo Hino. Der Unterschied ist nicht schwer zu erkennen. Haruki Murakami und Keizo Hino sind Schriftsteller zweier unterschiedlicher Generationen. Murakami ist nach dem zweiten Weltkrieg geboren, Hino davor. Der Stil von Murakami ist wesentlich moderner und richtet sich an die moderne Popkultur Japans. Die Nachkriegszeit ist für Murakami überhaupt kein Thema und lässt die staubige Kiste gleich auf dem Dachboden. Dafür widmet er sich in Südlich der Grenze, westlich der Sonne Modernen Themen. Einsamkeit in einer erfolgsorientierten Gesellschaft. Der Alltag eines jungen Mannes, der noch nicht wirklich weiß, welchen Weg er einmal einschlagen wird. Und, ein Thema womit ich mich selbst angesprochen fühlte, das Leben eines Einzelkindes. Murakami selbst ist Einzelkind und verarbeitet dies auch im Roman. Sein Protagonist Hajime dient dabei jedoch nur teilweise als Murakamis Alter Ego. Er verkörpert Murakamis Interessen und Denkweise. Das Leben seines Protagonisten ist aber größtenteils fiktiv (mit der Ausnahme, das Hajime eine Jazzbar besitzt, von der auch Murakami selbst einst der Inhaber war). Die Thematik mit den Einzelkindern hingegen brachte auch mich zum grübeln. Ich bin selbst Einzelkind und fühlte mich sehr verbunden mit den Gedanken von Hajime. Meine Mutter hat mich zum Glück aber nie gefragt, ob ich mir ein Leben mit Geschwister vorstellen könnte. Aber vermutlich hätte ich darauf die gleiche Antwort auf Lager gehabt, wie Hajime.

Der Prolog von Südlich der Grenze, westlich der Sonne dient als eine art Coming of Age Geschichte. Hajime berichtet über seine Kindheit und Jugend. Einen besonderen Fokus legt er auf dieses geheimnisvolle Mädchen aus seiner Schulzeit, Shimamoto. In der neuen Übersetzung habe ich nun erfahren, dass Shimamoto der Familienname ist. Ein ziemlich interessanter Fakt, denn somit redet Hajime sie stets mit dem Familiennamen an, ohne das wir dabei jemals ihren Vornamen erfahren. Diese Anrede an sich ist aber in Japan Gand und Gebe. Für gewöhnlich redet man sein Gegenüber aber doch irgendwann mit dem Vornamen an, sobald das Verhältnis freundschaftlich oder intim ist.
Einige Kapitel später wechselt die Geschichte in die Gegenwart, und promt wechselt auch das Genre. Mit dem Auftauchen von Shimamoto nimmt der Roman surreale Züge an. Immer mehr driftet Hajime in eine Geschichte ab, der er nicht mehr so ganz folgen kann. Warum ist Shimamoto bloß von so vielen Geheimnissen umgeben? Existiert sie wirklich? Hajime hat Probleme damit, seine Situation rational zu begutachten. Er ist fasziniert von Shimamoto, will sie endlich für sich haben. Er kann einfach nicht loslassen, egal, ob er dafür sein bisheriges Leben aufgeben muss.
Aber muss er auch ständig an den älteren Herrn denken, der ihm einen Kuvert mit viel Geld damals überreichte, und befahl, sich Shimamoto nicht mehr zu nähern.

*
Am Ende bleiben dem Leser natürlich viele Möglichkeiten zu Interpretationen. Denn man wird mit einem riesigen Haufen Fragen zurückgelassen. Aber Murakami gibt schon im Prolog Hinweise für den geneigten Leser. Genau so wenig, wie es einen Beweis dafür gibt, dass Nat King Cole jemals eine Interpretation von South of the Border gesungen hat, gibt es für Hajime einen Beweis dafür, dass die Erlebnisse mit Shimamoto je wirklich geschehen sind. Einmal mehr steht auch der Jazz für Murakami in Südlich der Grenze, westlich der Sonne im Fokus. Der Roman ist stets mit Jazz untermalt, und beinahe alle Songs kann man sich auf YouTube anhören. Für die Atmosphäre ist das natürlich super, besonders, wenn man gerade das Buch liest. Es ist die Musik, die Murakami all seine Leidenschaft für das Schreiben beschert hat, und in diesem Roman ehrt er den Jazz ganz besonders. Die Musik gehört einfach zum Stil Murakamis und darf in keinem Roman fehlen. Übrigens erwähnt Murakami im Prolog sehr ehrenhaft den Komponist Franz Liszt. Dieser war mit seiner Années de pèlerinage der Ideengeber zu seinem neuen Roman Shikisai wo motanai Tasaki Tsukuru to Kare no Junrei no Toshi.
*

Die neue Übersetzung will ich natürlich auch noch erwähnen. Viele Leser forderten über Jahre eine angemessene Übersetzung aus der Originalausgabe der Romane Gefährliche Geliebte und Mister Aufziehvogel. Beide Romane wurden nur aus der englischen Fassung in die deutsche Sprache übersetzt. Während bei Mister Aufziehvogel die Unterschiede weniger gravierend sind (dafür aber einige Parts aus der Originalausgabe fehlen), löste die deutsche Übersetzung von Giovanni Bandini und Ditte Bandini, die wiederum auf der englischen Übersetzung von Philip Gabriel basiert, einen regelrechten Eklat aus. Nicht nur wurde die bereits eh schon raue und vulgäre Übersetzung noch weiter verfälscht, auch zeichnete sie ein falsches Bild von Murakami, von dessem Stil kaum etwas übrig geblieben war bei der alten Übersetzung. Auch war der Titel Gefährliche Geliebte ziemlich ungünstig gewählt. Mit der neuen Hardcover-Edition erhält Südlich der Grenze, westlich der Sonne endlich eine mehr als überfällige Übersetzung aus der japanischen Fassung. Übersetzt wurde der Text von Ursula Gräfe, die, wie bei so vielen anderen Murakami-Übersetzungen, eine fantastische Arbeit geleistet hat. Der unverkennbare Murakami-Stil ist wieder da. Der Text liest sich wesentlich flüssiger, setzt auf eine passendere Wortwahl und holt all die verborgenen Schätze zurück, die bei der damaligen Übersetzung verloren gegangen sind. Für Murakami-Leser dürfte die Ausgabe damit unverzichtbar sein. Gelegenheitsleser, oder Leser, die nicht mit der japanischen Literatur vertraut sind, würden vermutlich sogar weiterhin die alte Übersetzung vorziehen.

Wer gerne einen ausführlichen Vergleich zu den Unterschieden beider Übersetzungen lesen möchte, der sollte unbedingt Japanliteratur besuchen. Im Link befindet sich bereits der Verweis auf den besagten Artikel.


Resümee

Südlich der Grenze, westlich der Sonne ist endlich der Roman, der er schon immer hätte sein sollen. Ein herausragender Roman der japanischen Literatur, für eine Generation, die mit ihren ganz privaten Sorgen und Problemen fertig werden muss. Haruki Murakami beweist einmal mehr, wie gut er diese einsame Generation versteht. Leider scheint dieses Talent immer noch nicht in Stockholm respektiert zu werden, denn bei der Vergabe des Nobelpreises setzt man weiter auf längst vergangene Zeiten und Themen.

Südlich der Grenze, westlich der Sonne ist Haruki Murakami in absoluter Höchstform. Eine Geschichte, über die man auch nach dem lesen noch lange nachdenken wird. Ich war mir schon beinahe etwas unsicher, ob der Roman noch einmal die gleiche Faszination auf mich ausüben wird, wie zu der Zeit, als ich ihn vor knapp fünf Jahren das erste mal gelesen habe. Und ich muss zugeben, er hat nichts von seiner Magie einbüßen müssen.


Ein großes Dankeschön geht an den DuMont Buchverlag, der mir Südlich der Grenze, westlich der Sonne als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.



Chris Isaak: South of the Border

Mittwoch, 5. Juni 2013

Rezension: Trauminsel (Keizo Hino)





Japan 1985

Trauminsel
Autor: Keizo Hino
Originaltitel: Yume no shima
Erscheinungsjahr: 1985 (Japan), 1993 auf Deutsch bei edition q
Übersetzung: Jaqueline Berndt, Hiroshi Yamane
Genre: Phantastik


"Für Menschen Zutritt verboten"
Und unterzeichnet war das Ganze mit einer kleinen, nackten Schaufensterpuppe links unten. Shozo musste lachen, als er das sah. Habe ich nicht schon letzte Woche hier gelacht? Aber er begriff nicht, warum es ihn ausgerechnet hier immer überkam (für gewöhnlich lachte er nämlich äußerst selten).
Dann werde ich also hinausfahren. Auf das künstliche Land, auf den Boden aus Müll. Ist nicht gerade dort die neue Heimat für zwiespältige Menschen wie mich? Auf dem Friedhof für die entropischen Ausscheidungen von Groß-Tokyo. Vielleicht aber verwandelt sich die Unkrautwildnis schon bald in einen großen Wald oder eine ganz neue Stadt, die kein Betonhaufen ist. Ich werde die mysteriöse Motorradfahrerin suchen, jene Fee der neuen, unechten Erde.


Japanische Schriftsteller und ihre geheimnisvollen, mysteriösen Frauen. Ob Haruki Murakami oder Taichi Yamada, beide Autoren berichteten bereits über diese seltsam schönen Erscheinungen. Keizo Hino bildet da keine Ausnahme. Der mittlerweile verstorbene (1929-2002) Preisträger des Akutagawa-Preises (1974 für Ano Yuhi) war ebenfalls fasziniert von einer ihm praktisch unnahbaren, unheimlichen Frau. In Trauminsel wird diese für den Protagonisten aber in mehreren Hinsichten gefährlich. Der Titel Gefährliche Geliebte, der wäre hier wesentlich angebrachter gewesen als noch bei Murakamis Roman damals(nur auf die deutsche Veröffentlichung bezogen). Mit Trauminsel lieferte Hino seinen wohl bekanntesten Roman ab, da er auch außerhalb Japans veröffentlicht wurde. Zum Glück, kann man da sagen. Denn das eh schon recht überschaubare Werk des ehemaligen Journalisten bleibt größtenteils in seiner Heimat verborgen. Vermutlich wird sich daran auch in Zukunft nichts ändern. Trauminsel ist aber in jeder Hinsicht ein lesenswerter Roman, besonders für Liebhaber der japanischen Literatur. Denn Keizo Hinos Protagonist Shozo kämpft regelrecht mit zwei Welten. Eine Welt, die kurz nach dem zweiten Weltkrieg spielt, und eine Welt, in der Wolkenkratzer und künstliche Inseln existieren. Wie kann ein Mensch aus der japanischen Nachkriegszeit  in solch einem Umbruch existieren? Die Antwort auf diese Frage wird dem Leser teilweise in diesem Buch beantwortet. Doch nun erst einmal zum Inhalt.

Shozo Sakai, Mitte fünfzig, führt ein bodenständiges Leben. Er arbeitet als Ingenieur bei einer recht bekannten japanischen Baufirma, die einen großen Teil dazu beitrug, dass Tokio zu einer wirtschaftlich starken Metropole heranwuchs. Die Wolkenkratzer, die Shozo teilweise mit entwarf, stehen als Statussymbol für ein neues und modernes Tokio. Allerdings, so sehr Sohzo sich für dieses eindrucksvolle Tokio begeistert, so sehr ihn die Wolkenkratzer auch verblüffen, kann er die Vergangenheit nicht so ganz vergessen. Immer wieder, wenn Sohozo seine Spaziergänge macht, verwandelt sich sein Tokio immer mal wieder zurück in die Brandruinen aus dem Krieg. Eines Tages wird Shozo Zeuge einer seltsamen Gruppierung von Schulkindern, die mit ihm im selben Bus sitzen. Sie sind eigenwillig gekleidet, und irgendwie wirken diese Kinder viel zu ruhig und abgeklärt für ihr Alter. Shozo entschließt sich dazu, den Kindern zu folgen. Die letzte Haltestelle führt Sohozo in die Nähe der Bucht von Tokio. Das Neuland. Umzingelt von künstlichen Inseln. Die Kinder stürmen in eine riesige Halle. Als Shozo diese Halle betritt und ein Konzert erwartet, trifft er tausende von anderen verkleideten Kindern. Händler verkaufen verschiedenste Manga und die Atmosphäre dabei ist für solch eine Ansammlung von so vielen Kindern viel zu ruhig. Diese eigenartige Messe lässt Shozo mit einer eigenartigen Leere zurück. Er versteht die japanische Gesellschaft nicht mehr so ganz. Trotzdem will er den Anschluss an diese modernisierte Welt nicht verlieren. Das Neuland wird nach diesem Ereignis für Shozo zu einem besonderen Ort. Er will diese für ihn völlig fremde Gegend erkunden. Bei seinen wöchentlichen Spaziergängen über das Neuland in der Bucht von Tokio, lernt er eines Abends eine Motorradfahrerin kennen, die mit ihrer lockeren und unbekümmerten Haltung eine ungeheure Faszination auf Shozo ausübt. Er bemerkt, diese Frau habe die Fähigkeit dazu, ihn aus dem Tokioter Betondschungel zu führen. Und die Trauminsel scheint dabei gleich hinter der Bucht von Tokio zu liegen.

Für westliche Leser dürfte es aber etwas kompliziert werden was die Geografie angeht. Hino geht sehr auf die Bucht von Tokio ein. Zwar befindet sich eine gezeichnete Karte im Buch, was auch hilfreich ist, aber so wirklich ein Bild von der kompletten Umgebung kann man sich erst machen, wenn man sich ein wenig im Internet über die Buch von Tokio schlau gemacht hat. Und selbst danach wird man wohl immer noch eher sein eigenes Bild vor Augen haben, anstatt die echte Bucht zu sehen, wie man sie in Tokio vorfindet. Für alle Interessierten hänge ich am Ende der Rezension aber noch ein Video an, welches ein bisschen mehr Aufschluss darüber geben wird, worüber Keizo Hino in diesem Roman berichtet.

Trauminsel ist indirekt aufgebaut in zwei Hälften. Zum einen lernen wir Shozo Sakai kennen, den Protagonist der Geschichte. Trauminsel ist dabei keine Geschichte, die von einem Ich-Erzähler erzählt wird. Für japanische Geschichten aus dieser Zeit ist das nicht unbedingt selbstverständlich.
Shozo ist ein  aufrichtiger und pflichtbewusster Mensch. Selbst nachdem seine Frau starb, verlor er nicht die Fassung. Obwohl Shozo ein ruhiger Charakter ist, schätzen ihn seine Arbeitskollegen. Auch Einsamkeit ist für ihn kein Thema. Trotzdem bemerkt man, je weiter die Geschichte vorangetrieben wird, dass Shozo irgendwie zwischen zwei Welten festhängt. Als er die Bucht von Tokio Besucht, wird ihm erstmals bewusst, dass jene Stadt, die er so sehr liebt und seinen Beitrag dazu leistete, sie erneut mit aufzubauen, ihm eigentlich völlig fremd ist. Es fällt ihm schwer, dieses neue und hochmoderne Japan zu verstehen. Dieser Teil des Romans ist sehr sachlich und teilweise sehr melancholisch gehalten. Der zweite Teil der Geschichte geht dafür eher in die Richtung Selbstfindung. Selbstverständlich driftet Trauminsel nicht zu so einer Esoterik Grütze der Marke Paulo Coelho ab. Vielmehr nehmen ziemlich surreale Elemente die Geschichte ein. Da wären zum einen die Schaufensterpuppen, die scheinbar ein Eigenleben entwickeln, zwei mysteriöse Frauen, deren Rolle ziemlich undurchschaubar bleibt, und, natürlich, die Trauminsel selbst. Diese vergessene kleine Insel hinter der Bucht von Tokio. Gleicht sie viel mehr einem echten Dschungel als einer Müllhalde. Shozo kommt es vor, als habe er eine komplett andere Welt betreten. Dabei ist die Skyline von Tokio nur einen Katzensprung entfernt. Irgendwer, so scheint es Shozo, hat auch diese Insel, genau wie die Schaufensterpuppen, ein Eigenleben entwickelt.

Der Konflikt, den Shozo mit sich selbst führt, der hat mich sehr beeindruckt. Ich selbst bin in einer recht gefestigten Gesellschaft aufgewachsen. Den Krieg kenne ich nur aus Geschichtsbüchern und die Technik erleichtert das Leben ungemein. Für eine Person aus der Nachkriegszeit ist dieser Wandel der Welt vermutlich sehr unverständlich. Selbst wenn man einen Teil dazu beigetragen hat, die Stadt aus den Trümmern wieder aufzubauen, und meint, sie zu kennen. Diese Welt, die sich im Umbruch befindet, kommt plastisch und unwirklich rüber. Genau dieses Problem hat Shozo. Er driftet zwischen Traum. Wirklichkeit und Vergangenheit. Und dann ist da eben diese eigenartige abgeschirmte Insel, gebaut auf Bergen von Müll. Dinge aus vergangenen Zeiten, die nicht mehr gebraucht werden. All das beschreibt Keizo Hino mit unglaublicher Leidenschaft und einem enormen Maß an Ideenreichtum. Die Geschichte verwandelte sich immer ein bisschen mehr von einem typischen Nachkriegsroman zu einem surrealen Abenteuer.

Ein Öko-Roman ist Trauminsel übrigens nicht. Auch wenn viele ihn so bezeichnen. Zwar spielt das Ökosystem und die Umwelt in Trauminsel keine unbedeutende Rolle, der Fokus liegt aber eindeutig bei der Entwicklung der Charaktere und ihren Sorgen. Und natürlich Japan selbst. Nach der Kapitulation hat sich viel in dem Land getan, und die Menschen, die den Krieg körperlich heil überstanden haben, fühlen sich in ihrer eigenen Stadt nicht mehr heimisch. Man bekommt also keine Moralpredigt in Sachen "Trenne deinen Müll" oder "Schone die Umwelt" gehalten, sondern tatsächlich eine fiktive Geschichte, die größtenteils immer noch auf Unterhaltung ausgelegt ist. Das man auch nach der letzten Seite von Trauminsel immer noch über die Geschehnisse nachdenken kann, ist ein netter Zusatz.

Trauminsel wird in Deutschland von edition q vertrieben (die, wenn ich mich nicht irre, ein Teil des be.bra Verlages sind). Die Hardcover Edition ist schön anzusehen. Und es wird sich auch lohnen, sich das Buch mal ohne Schutzumschlag anzusehen. Optisch gibt es nichts zu meckern, inhaltlich schon. Denn umso trauriger ist es, wenn bereits im Klappentext das Ende der Geschichte verraten wird. Ich kann den Lesern, die dieses Buch noch nicht kennen, nur davon abraten, den Klappentext zu lesen.
Auch die Übersetzung ist nicht mehr so ganz zeitgemäß. Diese basiert auf der alten deutschen Rechtschreibung und wurde nicht erneuert, was ich aber nicht als ein Problem ansehe. Viel mehr nervten mich die vielen Wortwiederholungen. Zum Beispiel das Wort Plötzlich. Hätte ich ein Trinkspiel gestartet, bei dem ich immer einen Kurzen trinke, sobald das Wort Plötzlich zu lesen ist, wäre ich am Ende, muss ich zugeben, ziemlich betrunken gewesen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es bei der Übersetzung nie eine andere Alternative zu diesem Wort gab. Bewusstsein (Bewußstsein in der vorliegenden Übersetzung) war auch ziemlich beliebt. Mit der Ausnahme der Wortwiederholungen fand ich die deutsche Übersetzung aber dennoch flüssig und angenehm zu lesen.


Resümee

Trauminsel ist melancholisch und verträumt. Ein Roman, den man in einem Rutsch durchlesen kann, wenn man mag. So leicht lassen sich die nicht einmal 200 Seiten lesen. Trotz der Kürze, oder gerade weil es keine überflüssigen Längen gibt, hat diese Reise zur Bucht von Tokio mir viel Freude bereitet. Da verzeihe ich Keizo Hino sogar eine völlig überflüssige Liebesszene und ein altkluges Kind. Im Anhang des Romans befindet sich noch eine persönliche Nachricht des Autors. Diesen kleinen Anhang zu lesen kann ich nur empfehlen, da dieser Text einige Details preisgibt, die auch zum Verständnis von Hinos Protagonist Shozo helfen dürften.

Insgesamt ist Trauminsel auch für westliche Leser leicht zugänglich. Bei Literatur aus Japan ist es häufig eher das Gegenteil. Man findet meistens recht schwer in die Geschichten, wird nicht so ganz schlau aus den rätselhaften Ereignissen. Zwar verwehrt Hino am Ende eine genaue Erklärung seiner Trauminsel, aber bei einem kann sich der Leser sehr sicher sein, die geheimnisvolle Fremde, die wird in diesem Roman zumindest kein rätselhaftes Wesen bleiben.




Anhang: Die Bucht von Tokio