Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Mittwoch, 24. August 2011

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten




Autor: Kazuo Ishiguro
Originaltitel: Never let me go
Erscheinungsjahr: Großbritannien 2005
Deutscher Verlag: Karl Blessing Verlag (Hardcover), btb (Taschenbuch), Heyne (Taschenbuch)
Übersetzung aus dem Englischen: Barbara Schaden
Genre: Moderne Science Fiction, Coming of age, Drama




"Vor ein paar Tagen führte ich ein Gespräch mit einem meiner Spender, der sich beklagte, wie überraschend schnell die Erinnerungen aus dem Gedächtnis verschwinden, sogar die kostbarsten.
Das kann ich nicht bestätigen. Ich wüsste nicht, wie die Erinnerungen, die mir die liebsten sind, je verblassen sollten. Ich habe Ruth verloren, dann habe ich Tommy verloren, aber meine Erinnerungen an sie werden für immer bleiben.
Verloren habe ich wohl auch Hailsham. Man hört zwar noch gelegentlich, dass irgendein ehemaliger Hailshammer es zu finden versucht - oder vielmehr den Ort, an dem es einmal war. Hin und wieder kommen einem auch Gerüchte zu Ohren, was aus Hailsham geworden sei - ein Hotel, eine Schule, eine Ruine. Ich persönlich habe nie versucht, es zu finden, obwohl ich ständig kreuz und quer über Land fahre. Ich muss wirklich nicht unbedingt wissen, wie es jetzt dort aussieht." - Kathy H.


"Alles, was wir geben mussten". Was kann man sich unter solch einem Titel vorstellen? Geschweige, was wird man wohl von dem Originaltitel "Never let me go" erwarten können? Eine Geschichte über eine Familie die all Ihr Hab und Gut verpfänden mussten? Eine kitschige Liebesgeschichte über ein Pärchen, was am Ende der Geschichte endlich zueinander findet? Alles falsch. Auch wenn der deutsche Titel sich komplett von dem englischen unterscheidet, so finde ich ihn dennoch charmant. Und vielleicht sogar etwas besser als den Originaltitel. Doch ähnlich wie bei der Übersetzung des Romans von  Haruki Murakami "Naokos Lächeln", wird der Inhalt etwas zweckentfremdet. Denn wie bereits "Norwegian Wood", ein fantastischer Song der Beatles, ist auch "Never Let Me Go" ein Song der den Leser die gesamte Zeit über durch die Geschichte begleitet. Hier handelt es sich allerdings um einen fiktiven Song, gesungen von der ebenso fiktiven Sängerin Judy Bridgewater.

Von vielen Kritikern wird Alles, was wir geben mussten als einer der herausragendsten Romane seit der Jahrtausendwende bezeichnet. Ishiguro zeichnet eine pessimistische Zukunftsvision. Allerdings gibt es hier keine Raumschiffe oder Außerirdische. Die Geschichte spielt in einer modernen Zeit. Sie könnte sogar jetzt in diesem Moment spielen. Im ersten Teil des Romans wird noch gar nicht klar, worauf der Japaner eigentlich hinaus will. Haben wir es etwa mit einer typischen Geschichte des Erwachsenwerdens zu tun? Hätte ich nicht bereits vorher gewusst, in welche Richtung die Geschichte einschlagen wird, hätte ich genau diese Vermutung gehabt. Allerdings sollte alles anders kommen. Und das Endergebnis ist eine hoffnungslose wie düstere und gleichzeitig auch todtraurige Zukunft. Es gibt keinen Ausweg aus dieser Zukunft. Und all dies hat mich nicht nur beinahe zu Tränen gerührt, auch hat mich all Geschehene sehr nachdenklich gestimmt. Alles, was wir geben mussten ist ein herausragendes Werk. Und es bereichert die englische Literatur in allen Hinsichten.

Die Geschichte wird erzählt von Ich-Erzählerin Ruth H.
Diese arbeitet seit beinahe zwölf Jahren als Betreuerin für ehemalige Kollegiaten aus ihrem alten Internat.
In 8 Monaten, so sagt sie, werde auch sie zur Spenderin werden. Dann könne sie all das hinter sich lassen und endlich mit allem Frieden schließen. Kathy beginnt ihre Geschichte zu erzählen. Sie erzählt sie den "normalen" Menschen. Der Gesellschaft von der sie nie ein Teil war. Ein letztes mal resümiert sie über ihr komplettes Leben. Von ihrer Zeit als Schülerin auf dem Hailsham Internat, über ihre Zeit in einer Wohngemeinschaft mit ihren besten Freunden bis hin zu der Zeit, wo sie als Betreuerin das ganze Land bereiste. Schon bald wird auch Kathy Spenderin sein. Und auch sie wird abschließen.

Beinahe könnte man meinen Autor Kazuo Ishiguro sei tatsächlich eine Frau. So gefühlvoll und einfühlsam schlüpft er in die Rolle seiner Protagonistin. Diese erzählt beinahe nüchtern und als wäre es das gängigste in der Welt von ihren Ereignissen, die sie in den letzten rund dreißig Jahren erlebt hat. Schon immer stellten sich Kathy und ihr Kumpel Tommy viele Fragen über die geheimnisvolle Einrichtung Hailsham. Wieso werden die eigentlichen Lehrer Betreuer genannt? Was hat es mit der seltsamen Galerie auf sich wofür Madame die ganzen kunstvollen Arbeiten der Schüler einsammelt? Und wieso verhält sich Miss Lucy eigentlich immer so seltsam und redet davon, dass die Kollegiaten die Wahrheit über ihre Bestimmung erfahren sollten? Viele merkwürdige Dinge geschehen in Hailsham. Doch ist man im Alter eines Teenagers, scheint dies doch das unwichtigste der Welt zu sein. Immerhin gibt es die alltäglichen Sorgen, die man so hat, seine Interessen und die Liebe. Wen interessiert da schon was die Erwachsenen vor einem verheimlichen? Doch die Welt sieht anders aus. Hinter den Toren von Hailsham wartet auf Kathy, Ruth und Tommy nur der unausweichliche Tod. Und sie können rein gar nichts daran ändern.

Ich will nicht all zu viel über den weiteren Verlauf der Handlung verraten. Einiges davon wird einem bereits direkt auf den ersten Seiten erklärt. Später wird man den bizarren Twist sogar selbst erahnen können. Doch bereits auf diesen ersten Seiten spürt man, dieser Geschichte haftet etwas ganz besonderes an. Obwohl Erzählerin Kathy teilweise über völlig belanglose Dinge aus ihrer Kindheit schreibt, weiß man ganz genau, all das wird für den weiteren Verlauf der Geschichte wohl noch relevant werden. Und in der Tat, einiges bleibt bedeutungslos von dem, was Kathy erzählt. Allerdings dienen all diese Passagen dazu, dass wir uns noch mehr den Charakteren anvertrauen, sie zu schätzen wissen, ihre Probleme nachvollziehen können. Das erschreckende an Ishiguros Dystopie ist einfach, wie realitätsnahe das ganze Szenario doch ist. Der bloße Gedanke an solch eine Zukunft lässt mich erschaudern.

Aufgeteilt ist der Roman in 3 Abschnitte. Jeder Abschnitt stellt dabei einen Lebensabschnitt der Protagonisten dar. Immer unausweichlicher wird das Schicksal der jungen Leute. Und irgendwann akzeptieren sie ihr Schicksal. Immer dabei ist irgendwie dieser Song, Never let me go. Da der Song rein fiktiv ist (zumindest war er das vor der Verfilmung), ließ er nicht nur von seinem Text her viele Interpretationen zu. Auch der Leser selbst dürfte sich seine komplett eigene Version während des Lesens komponiert haben. Wie ein Reisebegleiter folgt uns dieses Musikstück. Einfach beeindruckend wie präsent etwas sein kann, was gar nicht existiert.


Resümee


Alles, was wir geben mussten ist eine Geschichte über Träume, Hoffnung und Einsamkeit. Kazuo Ishiguro schafft es meisterhaft den Leser in die Geschichte zu integrieren, als ob dieser Teil jener Welt wäre. Dem System gibt es kein Entkommen. Es ist aussichtslos. Kathy schreibt ihre Geschichte nieder, damit wir einen Einblick von einer Welt bekommen, die uns ewig verwehrt bleiben wird (und hoffentlich Fiktion bleibt). Zerplatzte Träume sind ein geringer Preis dafür, wenn man weiß, dass man ein langes und erfülltes Leben führen darf. Kathy und ihre Freunde mussten alles geben. Alles was sie je besaßen. Ihnen wird nichts bleiben, bis auf ihre Erinnerungen.


Neu durchgesehen, angepasst und korrigiert am 05.10.2017

4 Kommentare:

  1. Ich hatte das Buch letztens schon einmal in der Hand, hab es aber wieder weggelegt ^^ Wahrscheinlich, weil ich durch den japanischen Namen des Autors nichts mit einem englischen Internat in Verbindung gebracht habe. Das hatte mich anfangs wohl ein wenig verwirrt.
    Wenn du jetzt aber so begeistert darüber schreibst, scheint es ja ein Fehler gewesen zu sein.
    Wenn ich das nächste Mal im Buchladen dran vorbeilaufe, werde ich mal Probe lesen.

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  2. Hallo Salvo!

    Aus gesundheitlichen Gründen finde ich leider momentan, in dieser stressigen Zeit, kaum noch die Gelegenheit neues zu posten. Schön das du dennoch meinen Blog besuchst.

    Also zu Kazu Ishiguro. Der lebt schon sein ganzes Leben in England. Daher kann man ihn eigentlich auch als Briten bezeichnen. Daher ist auch der Schreibstil komplett von den japanischen Geschichte zu unterscheiden.

    Auf "Alles, was wir geben mussten" wurde ich aufmerksam als Murakami einmal begeistert den Roman erwähnte. Ich hatte ihn so lange hier liegen, und kam erst jetzt dazu ihn zu lesen.

    Die Verfilmung soll übrigens auch sehr empfehlenswert sein. Werde ich mir als nächstes ansehen. Soll ja viel mehr eine Neuinterpretation sein.

    Dir Salvo kann ich den Roman aber wärmstens empfehlen. Ich könnte wetten das du ebenfalls meine Meinung teilen wirst. Mal gespannt wie dir die Leseprobe gefallen wird.

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  3. Klar, ich schaue immer vorbei ;) Dass mal eine Zeit lang keine Beiträge kommen ist ja nicht schlimm. Man hat ja schließlich auch ein Privatleben und kann nicht immer Blog schreiben. Zumindest gute Besserung!

    Da ich heute in der Stadt war, habe ich das Buch mal angelesen. Der Anfang klingt auch ganz interessant. Was ich auch gut finde, es lässt sich recht einfach lesen. Keine komplizierten Satzbauten. Und wenn du es empfehlst, werde ich mir das Buch bestimmt nochmal zulegen. Erst einmal muss ich aber Mushishi noch fertig lesen.

    Apropo Mushishi. Die sechste Ausgabe von Del Rey ist total vergriffen. Als ich bei Amazon, Libri, usw mir den Band bestellen wollte, kam immer einige Tage nach der Bestellbestätigung der Hinweis: Kann nicht geliefert werden. Du weißt nicht zufällig, wo man noch Exemplare für einen humanen Preis ergattern kann? :D

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  4. Mir geht es genau so. Habe mir 5,6 und 7 bestellt. Aber nur 5 und 7 kamen an. Zum kotzen um es mal rustikal zu sagen. Ich habe bei Thalia bestellt.

    Und einen Nachdruck wird man wohl auch nicht mehr erwarten dürfen. Wir teilen also das gleiche Schicksal ;D

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